Was am Ende bleibt. Marija Barisic
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Название: Was am Ende bleibt

Автор: Marija Barisic

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия:

isbn: 9783990013649

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СКАЧАТЬ ich sie eigentlich schon zehn Jahre vorher gesehen. Mit meinen 33 Jahren war ich damals der jüngste Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin und der Leiter des neu gegründeten Jugendklubs, in dem sie mir auch das erste Mal über den Weg lief. Ihr Name war Blanche, sie war erst 17 Jahre alt, deutlich jünger als ich, ein wunderschönes Mädchen.

      Ich selbst war zu dem Zeitpunkt eigentlich verheiratet und hatte mit meiner Frau zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. An eine andere Beziehung wollte ich nicht einmal denken, aber ich hatte mich wohl in Blanche verliebt. Immer, wenn ich sie im Jugendclub sah, versuchte ich gleichgültig zu wirken, doch irgendwann beschloss ich, einen harmlosen Annäherungsversuch zu starten: Ich lud sie zu den Proben des Stückes »Prinz Friedrich von Homburg« ein, woran sich leicht ein Gespräch über den armen Kleist und unglückliche Liebe anknüpfen ließ. Inzwischen waren einige Jahre verstrichen, Blanche war schon verheiratet und hatte, so wie ich, zwei Kinder. Die Umstände waren noch nicht auf unserer Seite, erst zwei Jahre später, 1977, würden sie das sein.

      Diesmal war ich 41 Jahre alt, zweimal geschieden und mit einer Schauspielerin verabredet, auf die ich damals ein Auge geworfen hatte. Zusammen schauten wir uns eine Premiere am Deutschen Theater an, anschließend war die Premierenfeier im Foyer geplant, zu der sie mich aber nicht mehr begleiten konnte, da sie noch zu einem nächtlichen Rundfunktermin musste. Ich begleitete sie höflicherweise noch bis zum Bahnhof Friedrichsstraße, das Theater liegt ja nicht weit davon entfernt, und wollte im Anschluss eigentlich nach Hause fahren. Aber dann dachte ich mir: Ne! Also lass dir jetzt bloß nicht diese Premierenfeier entgehen wegen so einem blöden Zufall! So bin ich wieder zurück ins Theater, den ersten Stock hinauf, durch die Tür zum vollgestopften Foyer, wo die Leute schon wild tanzten, als mir plötzlich ein Schuh in hohem Bogen direkt vor die Füße flog.

      Das, ich sage es Ihnen, war ein Erlebnis wie aus einem Märchen. Ich blickte ein paar Schritte nach vorne und sah sie, Blanche, wie sie mit einem jüngeren Mann und nur einem Schuh am Fuß Boogie-Woogie tanzte, wobei Tanzen hier der falsche Ausdruck wäre. Sie hat so richtig getobt. Später stellte sich heraus, dass sie an diesem Abend eigentlich in finsterer Stimmung war: „Ich habe aus Wut getanzt“, sagt sie, wenn wir heute darüber sprechen, „und irgendwann hast noch du mich angequatscht, mehr weiß ich nicht mehr“. Sie war seit einem halben Jahr geschieden und außer sich, da sie erfahren hatte, dass sie gerade hier, am Deutschen Theater, eine versprochene Gastrolle doch nicht bekommen würde.

      Der Schuh war natürlich die perfekte Gelegenheit zu ihr zu gehen, sie anschließend zum Tanz aufzufordern, um dann anschließend zu fragen, ob sie denn nicht ein Glas Wein mit mir trinken möchte. Und das wiederum war die perfekte Gelegenheit zu sagen, dass es so schade wäre jetzt schon nach Hause zu gehen, nach so einem schönen Gespräch, dass ich zu Hause sehr schöne Platten von Franz Schubert habe, die wir uns anhören könnten. Im Gespräch hatte ich nämlich herausgefunden, dass sie erstens äußerst musikliebend und zweitens ein großer Fan von Franz Schubert war. Ich hatte zufälligerweise mehrere Platten von Schubert zu Hause und so verbrachten wir schließlich eine ganze Nacht mit seiner Musik in meiner kleinen Wohnung. Ich kann mich sogar noch ganz genau daran erinnern, was wir gehört haben: die Klaviertrios, gespielt vom tschechischen Suk-Trio, eine wirklich wunderschöne Platte. Wir haben sie immer etwas zweideutig Vögelchen-Platte genannt, weil eine grüne Wiese mit einem Vogel im Käfig auf ihr abgebildet war. Ich glaube wir haben den halben Abend geweint, so gerührt waren wir von uns und der Musik, die wir hörten.

      Irgendwie haben wir sofort eine Verbindung gespürt. Ich habe diese Verbindung an einem Gedanken erkannt, den viele andere Menschen auch haben, wenn sie der richtigen Person über den Weg laufen: Die würde ich jetzt gerne meiner Mutter vorstellen. Es war dieses Gefühl, das einem sagt, irgendwie passt die in die Familie, vom Gesicht her. Meine Mutter war natürlich nicht so schön wie sie, aber Blanche war ja auch Schauspielerin. Auf dem Foto, das hier auf meinem Fensterbrett liegt, war sie gerade einmal 25 Jahre alt. Es wurde geschossen, als sie im Film Jakob der Lügner die Rolle der jungen Jüdin Rosa Frankfurter spielte und war eigentlich eine Filmpostkarte, die damals von allen Hauptdarstellern in Riesenauflagen gedruckt wurde. Der Film wurde nämlich für den Oscar nominiert, man hoffte damals, dass der Oscar jetzt endlich auch in die DDR kommen würde. Leider hat es aber nicht geklappt, obwohl der großartige Film es definitiv verdient hätte.

      Heute, 46 Jahre später, ist Blanche fast 70 Jahre alt und immer noch schön. Ich finde sie tatsächlich immer noch genauso schön wie damals. Dabei ist das eine besondere Schönheit, die ich meine, denn seitdem ich sie kenne, schminkt sie sich überhaupt nicht. Für mich drückt sich darin aus, wie absolut ehrlich sie ist. Und mutig. Die ist viel mutiger, als ich es jemals war, auch im Herangehen an Menschen. Sie hätten sie sehen sollen, als wir zum ersten Mal in das Hospiz hereinkamen: Nach zwei Tagen hatte man den Eindruck, dass sie die Oberschwester hier ist. Das liegt bestimmt an ihrem Beruf als Dozentin und Regisseurin, aber auch daran, dass sie schon sehr lange mit jungen, klugen Menschen zusammenarbeitet.

      Irgendwann hat sie nämlich Abschied vom Theater genommen und begann stattdessen an der Universität Witten-Herdecke zu unterrichten. Dort hat sie aus eigenen Kräften eine Studentenbühne aufgebaut und jedes Jahr ein Stück inszeniert, aber nicht irgendeines, sondern immer Klassiker von Shakespeare oder Brecht. Sie im Umgang mit ihren Studenten zu sehen ist sagenhaft, das ist wirklich ein Erlebnis. Bei ihr kann man gut beobachten, dass dort, wo gut gelehrt, wo mit Liebe gelehrt wird, auf der anderen Seite viel Begeisterung entstehen kann. Die Studentenbühne hat sie in einer für uns sehr schweren Zeit aufgebaut und auch das spricht für ihre Stärke, denn ich war damals jahrelang intensiv mit der Arbeit am Theater beschäftigt und hatte fast gar keine Zeit für sie.

      Der berühmte Dramatiker Heiner Müller, ein bescheidener, aber anspruchsvoller Mann, inszenierte nämlich eines seiner Stücke am Deutschen Theater und hatte mich gefragt, ob ich die Dramaturgie für ihn machen wolle. Er mochte meine Frau sehr, sagte damals aber zu ihr: Irgendwie musst du dich zurückziehen. Wenn du ihn jetzt zu sehr brauchst, geht er kaputt, denn ich brauche ihn total. Das war damals nicht böse, sondern einfach nur ehrlich, ganz ehrlich gemeint. Er hat mich sehr stark vereinnahmt und ich habe mich auch gerne vereinnahmen lassen, weil es natürlich ein interessantes Leben war. Ich bin überall mit ihm mitgefahren: Palermo, Barcelona, Wien, wo wir die Gelegenheit hatten mit berühmten Bühnenbildnern zusammenzuarbeiten und Vorträge abzuhalten. Natürlich war das großartig, es war ja meine Leidenschaft! Aber die andere Leidenschaft war eben meine Blanche, die damals sehr unter meiner Abwesenheit litt, vor allem nachdem ihre Mutter gestorben war und sich kurz darauf ihr älterer Sohn das Leben nahm.

      Ich war damals einfach nicht für sie da. Einerseits, weil ich durch meine Arbeit wirklich nicht konnte, andererseits, weil ich nicht wusste, wie. In dieser Hilflosigkeit flüchtete ich in meine Dramaturgie. Dazu kam, dass meine Tochter ungefähr zur gleichen Zeit im Alter von 26 bei einem Autounfall ums Leben kam und ich mich um meinen verzweifelten Sohn kümmern musste, der sehr unter dem Verlust seiner Schwester litt und immer wieder in die Klinik musste. Auch ihr jüngerer Sohn litt unter dem Tod seines Bruders, wir waren beide, jeder für sich, damit beschäftigt, mit diesen katastrophalen Zuständen zurecht zu kommen, die uns den Boden unter den Füßen weggerissen hatten. Man könnte meinen, dass gerade dieses Leid Grund genug sein musste, noch näher aneinanderzurücken, sich noch stärker am anderen festzuhalten. Aber wissen Sie was? Gerade dann ist es besonders schwer, füreinander da zu sein, weil man nie ganz nachempfinden kann, was der andere in diesen schrecklichen Tagen und Wochen durchmacht und was er braucht. Ich will dafür aber gar keine fadenscheinigen Ausreden suchen, denn es waren sicher Situationen, in denen ich geflüchtet bin und für meine Liebste versagt habe.

      Natürlich hat sie unendlich darunter gelitten, das weiß ich und es ist ein ganz dunkler Schatten in meinem Leben, weil Abwesenheit in entscheidenden Momenten sich nie wiedergutmachen lässt. Damals hätte ich das wahrscheinlich gar nicht in Worte fassen können, aber rückblickend war es vermutlich die Angst vor dem Tod und vor der Trauer, die immer damit verbunden ist. Die ist schon sehr früh da, diese Angst, eigentlich unser ganzes Leben lang.

      Auch heute kommt sie noch hoch und dann kann man machen, СКАЧАТЬ