Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
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Alexander Degtjarew, stellvertr. Vorsitzender der Ideologiekommission des ZK, gibt Ergebnisse der Meinungsumfragen unter den Delegierten bekannt. Bezeichnend diese Rolle der Demoskopie; als seien die Delegierten selber noch einmal ein Demos, der erst gesichtet und repräsentiert werden muss. Aber das ist wohl auch so. Nur die wenigsten kommen zu Wort, und dies als Resultat hart ausgetragener Kräfteverhältnisse; schon dieses Wort zählt in der Regel nicht viel; nichts aber scheint die einzelne Stimme zu zählen, die als Knopfdruck in die Zählmaschine eingegeben wird.
Befragt nach dem Hauptgrund der Krise, heißt es am häufigsten, »die ideologischen Markierungen für die Ziele der Umgestaltung fehlen«; am zweithäufigsten, die Umgestaltung werde halbherzig betrieben; am dritthäufigsten, die Apathie.
3. Juli 1990 (2)
Gorbatschows gestriger Rechenschaftsbericht enthält wenig Vorwärtsweisendes. Er bräuchte diese Partei als »zementierende Kraft unseres multinationalen Staates«, d.h. als multinationale Kraft einer universalistischen politischen Kultur, hängt aber zugleich den kommunistischen Horizont aus, der längst zur sturen Mauer geworden ist, an der die Plakate abblättern, verfügt also über keine Losung, die zumindest im Glauben die Menschen in eine bessere Zukunft risse. Da Gorbatschow zugleich die »Umwandlung des superzentralisierten Staates in einen wirklichen Bundesstaat« betreibt und die unmittelbare Aufgabe darin sieht, »die Souveränität der Republiken und der örtlichen Selbstverwaltung mit realen wirtschaftlichen Inhalten zu füllen«, hängt er in den Widersprüchen einer fast magischen Problemstellung: die »Unteilbarkeit der KPdSU mit der maximalen Selbständigkeit der kommunistischen Bewegungen der Unionsrepubliken und Autonomien« zu vereinbaren. Die baltischen Republiken bieten ein Lehrstück: die dortige Spaltung der KP hatte zur Folge, »dass die kommunistische Bewegung in den Republiken weitgehend geschwächt wurde und dort andere politische Kräfte an die Macht kamen«. So schärft er als wichtigste Lehre ein: »Zusammen stellen die Kommunisten eine starke politische Kraft dar, doch diese Kraft wird zerbröckeln, wenn sie sich auf ihre nationalen Quartiere zurückziehen.« Aber was sollen sie der nationalen Agitation entgegensetzen? Der Klassenkampf ließe eine internationalistische Position aufbauen, aber von ihm ist nicht die Rede. Statt von einer im genauen Sinn sozialen Basis der Partei zu sprechen, bestimmt Gorbatschow die KPdSU als »politische Organisation des ganzen Volkes«. Gegensatzlos? Das erinnert an Stalins »Staat des ganzen Volkes«? Nicht die Pluralität von Bedürfnissen und Interessen ist das Problem, sondern die Antagonismen sind es. Hier redet Gorbatschow drum herum, als wäre das sozialistische Projekt gegensatzlos. Die KPdSU soll diejenigen Interessen vertreten, »die Millionen von Individuen zu einem Volk verbinden.« Der Markt, auf den er orientiert, spaltet indes die Gesellschaft bereits, und diese Spaltung führt dem Nationalismus paradoxe Energie zu (paradox, weil der Markt jede Nation unbarmherzig in Gewinner und Verlierer zerlegt). Nur als unerbittlich funktionierende Sanktionsmaschinerie in einer sich im Selbstlauf beschleunigenden Wirtschaft würde der Markt zugleich Kohäsionseffekte zeitigen. Jetzt bedingt die ökonomische Misere ein allgemeines Rette-sich-wer-kann.
Gorbatschow erwähnt den Vorwurf, er habe »das Land in ein ›globales Experiment‹ verwickelt, ohne einen theoretischen Vorlauf oder ein Reformkonzept zu besitzen.« Und da hat sich ja in der Tat ein Abgrund des Nicht-Vorhergewussten oder -Gewollten aufgetan, eine Verkettung von Zwangslagen, die seinem Handeln immer neue Impulse aufzwingen. Am wenigsten hatte man (einschließlich meiner) wohl erwartet, die Idee des Sozialismus könnte vom Versuch ihrer Neubelebung doppelt verletzt werden. Gorbatschow kann nur allgemein sagen, was nötig wäre, diesen Begriff mit neuem Leben zu erfüllen: »freie Arbeit, Selbstverwaltung und Wohlstand des Volkes« wäre ein »humaner und demokratischer Sozialismus«, der »das stalinsche Sozialismus-Modell durch die zivile Gesellschaft freier Männer und Frauen« ablösen würde. Diese Perspektive bleibt vorerst gleichsam ins Körperlose gebannt, hat keine materielle Basis mehr, vor allem im nächsten ›materialistischen‹ Sinn der Versorgung jener freien Männer und Frauen mit Lebensmitteln. Die »Befreiung vom Monopolismus« bleibt vorerst eine rein negative.
Neu, wie er die Frauenfrage aufnimmt; und endlich gewahrt er die neue Arbeiterbewegung. Klar, dass die KPdSU eine Partei im Wortsinn werden muss: Teil eines weiten politischen Spektrums. Klar auch, dass sie parlamentarische Partei zu sein hat und dass die Transposition vom Monopol der Staatspartei dorthin ein Salto mortale sein wird.
4. Juli 1990
Ajas Mutalibor (1. Sekr. Aserbaidschan): »Die Geschichte wird den politischen Mut des Mannes gebührend einschätzen, der sich für eine revolutionierende Perestrojka entschieden hat. Doch seine Zeitgenossen können sich nicht mit Unentschlossenheit und Inkonsequenz abfinden, wegen derer die große Initiative untergehen kann.«
Leonid Abalkin hat dem Parteitag auf seine Weise das historische Surfprinzip erklärt: Jede gesellschaftliche Bewegung muss »die Tendenz fortschrittlicher Veränderungen des gesellschaftlichen Prozesses aufspüren und möglichst zu deren Realisierung beitragen«. Eine Partei, die dem zuwiderhandelt, »wird unweigerlich […] abtreten«. – Was daran verzweifelte Rhetorik ist, um das Neue in die Köpfe des Apparats zu hämmern, was er selber davon so denkt, vermag ich nicht abzuschätzen. Aber da ist es wieder, das ›eiserne Gesetz des Fortschritts‹. Diesmal will es die Absage an die »Idee der sozialistischen Wahl«. Von der Gegenseite wendet sich Generaloberst Nikolai Schljaga, 1. Stellv. d. Chefs der politischen Hauptabteilung der Sowjetarmee und der Seekriegsflotte, scharf »gegen Entideologisierung und Entpolitisierung der Streitkräfte […]. Die Partei als die politische Avantgarde der Gesellschaft darf die Armee nicht verlassen.«
APN verteilt ein Interview mit Wladimir Lysenko (Kandidat in Philosophie) von der Demokratischen Plattform. Sein Credo: »Die Gesellschaft sollte sich auf natürliche Weise entwickeln und ihren eignen Gesetzen folgen.« Da sind sie wieder, Natur und Gesetz, diese scheinschweren Kaliber, mit denen auch der ML in die Gegend schoss. Immerhin findet L. es »notwendig, sich auf marxsches Denken als Ganzes zu stützen, einschließlich von Werken Plechanows, Bernsteins und Gramscis«. Vor allem müsse man weg von Lenins Lehre von der Partei neuen Typs.
Abel Aganbegjan: »Die UdSSR auf dem Wege zur Integration in das Weltwirtschaftssystem«, ein kleiner Artikel von vier Manuskriptseiten, verteilt von APN, preist den Weg von der Selbstisolierung zum offenen Wirtschaftssystem, das sich in den Weltmarkt einklinkt. Völlig theorie- und bedenkenlos.
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Hans Ulrich Kempski (»Der Magier probiert einen neuen Trick«, SZ v. heute) nennt Gorbatschows Bericht »eine seltsame Rede, die erst hinterher bewusst werden lässt, wie sehr sich Gorbatschow bedeckt hält: keine Versprechungen und keine Prognosen, auch keine Schuldzuweisungen.« Auf dem XXVII. Parteikongress hatte er noch rasche Besserung versprochen und Kampfansagen gegen negative Erscheinungen und Personengruppen ausposaunt.« Diesmal räume er bloß ein, »bisher vergeblich nach einem grandiosen Gedanken […], nach einem rettenden Geistesblitz zugunsten der Perestrojka« gefahndet zu haben. Das Wort »radikal« durchziehe nun als »trotzig-theatralische« Beschwörungsformel den Diskurs. – Die ausländischen Beobachter rätselten, warum es ihm nicht gelingt, »seine geradezu magische Strahlkraft, die ihn im Ausland gleichsam zum Supermann macht, zu Hause in der Sowjetunion in Erfolge umzumünzen«. Die »kaum strittige« Antwort laute: »weil die Perestrojka nicht nach einem durchdachten Plan in Gang gesetzt worden sei«. Nur 4,8 Prozent der KPdSU-Mitglieder sollen sich noch als »gläubig« bekennen. Den schütteren Applaus für Gorbatschow im Vergleich zum »rauschhaften Beifall« für Jakowlew erklärt Kempski aus Sätzen wie diesem, dass es »nicht nur leere Regale, sondern auch leere Seelen« gegeben habe. Dieser Satz habe die Seelen der Delegierten erreicht.
Der Verteidigungsminister, Dmitri Jasow, gegen »Entpolitisierung« der Armee. Wegen einer Welle von Wehrdienstverweigerung fehlten 400 000 Soldaten. Erlitt danach einen Schwächeanfall СКАЧАТЬ