Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Jahrhundertwende - Wolfgang Fritz Haug страница 4

Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

Серия:

isbn: 9783867548625

isbn:

СКАЧАТЬ diesem »Etwas«! – »außer Türöffnung für die kapitalistische Moderne«, die dem Land nicht viel mehr als den Status der Türkei zugestehen werde. – Jung hat von meinem Perestrojka-Journal gehört. Seit September hat er ebenfalls Buch geführt und »gegen die Realität angeschrieben«. Schließt es morgen ab.

      Im Aprilheft der »Marxistischen Blätter« Wütend-Enttäuschtes von Gerd Deumlich, notiert am Abend der DDR-Wahlen vom 18. März: »Das Volk – diese Idealisierung eines Subjekts, das sich immer nur richtig entscheidet, erst recht, wenn es schon die Höhen einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft erklommen hat, wird man sich wohl abgewöhnen müssen.« – Mir scheint, dass die am Gängelband der DDR geführte DKP sich seit langem »das Volk abgewöhnt« hat.

      1. Juli 1990, als Pressekorrespondent für die »Volkszeitung« auf dem Flug nach Moskau

      An diesem Sonntagmorgen auf der Fahrt nach Schönefeld zum Flug nach Moskau vorbei an den Schlangen der vor Schulhäusern und Polizeiwachen um DM anstehenden DDR-Bürger. Denn heute wird der Übergang zur Westwährung vollzogen. Die Waren drängten sich bereits an die Straßenränder: dicke Bündel gelbleuchtender Mohrrüben, rote Kirschen, Beeren, Blumen. Viele Geschäfte hatten an diesem Sonntagmorgen geöffnet.

      In der DDR waltete eine veraltete Gerechtigkeit, die Käthe-Kollwitz-Visionen hungernder Kinder entsprungen zu sein schien. Das Elementare war drastisch verbilligt, das Anspruchsvollere entsprechend verteuert. Im Effekt wurden dadurch gerade die leistungsfähigeren Schichten der Arbeiterklasse beeinträchtigt, was dazu beitrug, den gesamten Gang der Wirtschaft zu verlangsamen.

      *

      Heinz Jungs Umschwung vom Anhänger zum Gegner Gorbatschows – in weniger als einem Jahr – hilft, die Stimmung auf dem russischen Parteitag zu verstehen. Sein Sinneswandel ist die Antwort auf die zwölf hinter uns liegenden Monate der gesellschaftlichen Desintegration, ja Demoralisierung der bisher autoritär-sozialistischen Länder. Die Zusammenbrüche in Mitteleuropa und der weitergehende Staatszerfall in der Sowjetunion sind für ihn schlimmer als der frühere Zustand. Anscheinend war er nicht durch die Diagnose der unheilbaren Krankheit des alten Regimes gewonnen worden, sondern durch die Hoffnung auf einen relativ kurzfristig erneuerten Sozialismus. Als er diese Hoffnungen aufgeben musste, wandte er sich gegen Gorbatschow. Er rechnet ihm nicht die Neuöffnung zugute. Vermutlich ist es die kapitalistische Expansion, die den Umschwung bewirkt hat.

      Der »konservativen« Mehrheit des russischen Parteitags mögen ähnliche Umschwünge vorhergegangen sein. Wie wohl Tatjana Saslawskajas Tableau der sozialen Gruppen nach Graden der Trägerschaft bzw. Gegnerschaft im Verhältnis zur Perestrojka von 1987 heute aussehen würde?

      Der APN-Kommentator Dmitri Gaimakow sah im russischen Parteitag die Revanche für »die erzwungene Delegierung der Macht von den Parteikomitees an die Sowjets«. »Delegierung« eine sonderbare Kategorie für den Machtransfer in die Parlamente.

      Dass es bislang keine russische Parteiorganisation gab und ihre Schaffung eine Schwächung der KPdSU bedeutet, deutet auf das imaginäre Moment der Sowjetunion. 60 Prozent der Mitglieder der KPdSU leben in Russland, wo es allerdings 120 Nationalitäten bzw. Ethnien gibt. Die russische Hegemonialmacht konnte eben deshalb, weil Hegemonialmacht, keine eigne Organisation brauchen. Die jetzige Bewegung zweideutig, denn der Zerfall geht mit Emanzipation schwanger (falls es sich nicht umgekehrt herausstellt und die Emanzipation den allseitigen Zerfall bringt).

      Gegenwärtig fährt Russland in Gegensätze auseinander: Die Partei, vor allem das Funktionärskorps, zieht sich in diffuser Besitzstandswahrung nach der einen Seite zusammen, das Parlament, näher am Elektorat, in die entgegengesetzte Seite. Bisher hatte Gorbatschow diesem Gegensatz die Macht seines Zentrismus abgewonnen. Nun fahren ihm die Gegensätze davon, und sein Zentrismus hängt in der Luft. Zentrifugalität wird zum Generalnenner. Das kostet zugleich den Generalsekretär und den Präsidenten ein Gutteil der jeweiligen Amtsmacht. Lew Woronin, 1. Stellvertreter des sowjetischen Ministerpräsidenten, erwartet ausgerechnet vom Markt, dieser werde »die zentrifugalen Bestrebungen verhüten«.

      Wjatscheslaw Schostakowski, der Rektor der Parteihochschule, einer der führenden Vertreter der demokratischen Plattform, schätzt, dass 65 Prozent der Delegierten des 28. Parteikongresses zur Nomenklatura gehören (Hauptamtliche, Leiter, Offiziere). Seiner Richtung schwebt die Gründung einer »Partei des sozialen Fortschritts und der Demokratie« vor, die eine »linkszentristische Orientierung« haben soll (linke Mitte?). Die Konsolidierung der Konservativen bestimme die Situation, während die Linken wie üblich träge verharrten, bzw. vor lauter Selbstentzweiung die rechte Gefahr übersähen.

      2. Juli 1990, Moskau

      Beginn des 28. Parteikongresses der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. – »Schicksalsparteitag« (K. J. Herrmann im ND, 28.6.). – Engelbrecht, den ich abends am Telefon erreiche, begeistert von Jakowlews Furioso, das ihm Ovationen eintrug, nachdem er den Konservativen seinen Zorn und seine Verachtung hingeworfen hatte. War wohl seine Abtrittsrede. Er wirkt künftig im Präsidialrat. – Engelbrecht erklärt mir die beiden Rituale, um einen Redner fertig zu machen bzw. einen Hohen zum Abtreten aufzufordern: höhnischer Beifall oder Schwenken der Delegiertenkarten; »der ganze provinzielle Pöbel von Betonköpfen« im Saal, der dies praktiziert, sei die paradoxe Folge einer halben Demokratisierung der Delegiertenwahl. Unter der Herrschaft des mechanischen Auswahlschemas von früher hatte es eine Quotenregelung gegeben, die Arbeiter, Bauern, Frauen und Jugendliche begünstigte. Ca. 2000 Stimmen des ›rechten‹ Blocks. Die Demokratisierung des Wahlverfahrens begünstige diesen, da die anderen Richtungen ihre Stimmen auf mehrere Rivalen verteilten. Am Freitag vor dem Parteitag hat Gorbatschow auf einer ZK-Sitzung Bedingungen formuliert und sich ultimativ Anpöbelungen verbeten. In einer Hinsicht zeichnet sich eine Teilniederlage ab: den Entwurf zu einem neuen Statut musste er im Wesentlichen zurücknehmen; er wollte eine neue Struktur, bestehend aus einem Vorsitzenden mit Stellvertretern und einem Parteipräsidium (der PDS vergleichbar). G wollte mehr Zeit für Staatsgeschäfte. Engelbrecht meint, es sehe nach künftiger rechtszentristischer Führung aus.

      *

      G. Melikjan (Staatliche Kommission für Wirtschaftsreform): Aktiengesellschaften seien die beste »Entstaatlichungsform«, weil nicht Privatisierung, da die operative Verfügung übers Kapital nicht weggegeben werde. Mir schwant, dass das eine Milchmädchenrechnung ist, weil es ohne Spekulation keine Aktie geben kann. Die Alternative wären festverzinsliche Papiere. Über die Triebkraft möglicher Anleger schweigt sich der APN-Bericht aus. Ich glaube, es gibt einfach noch keinen ökonomischen Common Sense. – Der Wert der Produktionsgrundfonds betrage ca. 2 Billionen Rubel. In 1,5 bis 2 Jahren könnten davon allenfalls für 100 bis maximal 200 Mrd Rubel in Form von Aktien verkauft werden.

      3. Juli 1990

      Zu den Paradoxien des politischen Spiels der Kräfte in der KPdSU gehört die Forderung der »Arbeiter-Plattform«, einer linken Minderheit, nach »strenger Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit«. Sie sieht die »Schattenkapitalisten« sich in der Partei »ausbreiten« und das Land hinübergleiten in eine »bürgerliche Diktatur«. Der unheimliche Witz ist, dass diese ihre Warnung Teil der Gefahr ist.

      Gorbatschows Agieren beobachtend, fällt mir auf, wie er einmal gefällte Beschlüsse an und für sich untergeordneter Gremien wie festgefügte Tatsachen behandelt, von denen auszugehen ist. So jetzt die Beschlüsse des Märzplenums zur Landwirtschaftspolitik. Die Delegierten folgen ihm darin, obgleich sie eigentlich das souveräne Gremium schlechthin bilden, das sein ZK ohne weiteres desavouieren könnte. Die jetzt einzusetzende Kommission soll also die Verwirklichung jener Beschlüsse kontrollieren, nicht etwas Neues auskochen. Listig lässt er mit den Händen abstimmen, dass er diese Kommission nicht leiten muss. Denn er kandidiert für den Vorsitz СКАЧАТЬ