Название: Zwei Freunde
Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783957840127
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Ehe der Assessor begann, die Aufträge seines unmittelbaren Vorgesetzten auszuführen, konnte er sich im Vorzimmer von Boschhofer telefonisch zur Vorstellung anmelden. Das Verzeichnis der Ruf- und Zimmernummern der im Hause Diensttuenden verriet, daß der Ministerialdirektor im ersten Stock hauste. Boschhofer, Josef Boschhofer; Vorzimmer-Ruf Nr. 269. Als Wichmann die Hand nach dem Hörer ausstreckte, der schwarz, gekrümmt auf der Gabel lag, durchflutete ihn eine eigentümliche Ahnung, und er zögerte etwas, ehe er zugriff. Was denn, fürchtete er sich? Er war ja wohl verrückt!
Die Zentrale hatte eine schnippische weibliche Stimme.
»Nr. 269 bitte.«
»Vorzimmer von Ministerialdirektor Boschhofer.«
Wichmann brachte sein Anliegen vor.
Die Antwort der Sekretärin klang nach einem längst volljährigen Mädchen mit dickem Hals und starkem Busen. Ministerialdirektor Boschhofer sei durch Sitzungen sehr in Anspruch genommen – Dr. Wichmann werde vorgemerkt. Anruf gegebenenfalls auch in der Handbücherei, ja. So schnell werde er jedoch kaum empfangen werden.
»Danke.«
Der Hörer knackte wieder auf die Gabel. Boschhofer … Boschhofer. Wichmann summte den Namen vor sich hin. Namen hatten schon als Kind seine Neugier geweckt. Er liebte die farbigen, vorstellungskräftigen Bezeichnungen, die er in seinen Indianerbüchern gefunden hatte: Langspeer, Nachtwandler, brennendes Wasser, flinker Hirsch – Stern, der über dem Berge aufsteigt, und »ihre Füße singen, wenn sie geht«. Boschhofer … Boschhofer … Es gab Märchen, in denen man Namen wissen mußte, um zu zaubern, in denen der Name eine eigene Bannkraft hatte. Alle diese Beziehungen waren jetzt verschüttet von Straßenstaub und Wissenschaft. Nur ein letztes war noch geblieben, der Zusammenhang von Name, Geschichte und Landschaft. Boschhofer … starker dicker Mann, etwas ganz anderes als das Nordlicht Grevenhagen. Eine Beziehung von Acker, Bier, Mastochsen, Barockkirchen und goldenen Engeln, Fett, Schlauheit, Selbstbewußtsein. Die Vorzimmerdame mußte bunter gekleidet sein als Fräulein du Prel, die Unnahbare. Grevenhagen – Grevenhagen – Patrizierahnen, Marschen und tangbehangene Deiche, Schiffsmasten, salziger Geruch der weither rollenden Wogen, Kühle und ein wenig müde gewordener Hochmut und ihm vorgesetzt: Boschhofer – Boschhofer … Da kreuzten sich Ströme, und vielleicht strudelten Wirbel. Der Assessor bildete sich plötzlich mit Gewißheit ein, daß Grevenhagen den Namen Boschhofer auf eine gezwungene Art ausgesprochen habe. Wichmann hatte sich vor dem Hörer gescheut wie ein Mann, der in unbekannte Linien eines Kraftfeldes hineinspringen soll.
Nun war es geschehen.
Wenn der einsame Assessor an seinem Schreibtisch den Kopf hob, sah er die kahle, gelblich gestrichene Wand vor sich, links lag das Fenster. Sein Dienstzimmer war nicht groß; er hockte auf beschränktem Raum zwischen Tisch, Schrank, Regal, Aktenbock und verdecktem Waschtisch. Sitzgelegenheiten waren nur für zwei Besucher vorgesehen. Assessoren hielten noch keine Konferenzen ab.
Die Handbücherei lag nach der anderen Seite der Ottostraße zu. Er wollte später hinübergehen. Erst reizten ihn die Blätter in der blauen Mappe.
Als er den Deckel aufschlug, fand er vier Seiten Schreibmaschinenschrift im Original, auf festem weißem Papier, wie es schien, ganz ohne Fehler geschrieben, von Fräulein du Prel natürlich; er kannte schon den Typ der Adlermaschine. Gleich die ersten Sätze verrieten, daß es sich um ein Exposé über die zu erwartende Konjunkturentwicklunghandelte. Das Ganze war nicht so optimistisch gestimmt, wie Wichmann gefühlsmäßig für richtig gehalten hätte, doch waren die weniger günstigen Prognosen einleuchtend begründet. Auf der vierten Seite, rechts unten in der Ecke, stand das in Blaustift ausgeführte »G« mit dem versteckten Schnörkel. Eine Ausarbeitung des Ministerialrats persönlich.
Wichmann suchte angestrichene Stellen, aber er konnte nicht mehr als die eine auf der zweiten Seite entdecken, die ihm schon beim ersten Blick aufgefallen war. Der Satz: »Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung hielt sich im August 1928 noch auf dem jahreszeitlich bedingten niedrigen Stand« war mit Bleistift dick unterstrichen, und am Rande dieser Zeile stand ein grünes Fragezeichen.
Ein grünes Fragezeichen.
Vorrecht des Staatssekretärs!
Wichmann klappte die Mappe zu, griff sich zwanzig linienlose Bogen, untersuchte, ob der Füllhalter ordnungsgemäß in der linken Brusttasche hing, und machte sich auf den Weg. In der Handbücherei wollte er die Unterlagen suchen, um den beanstandeten Satz nachzuprüfen.
Der langgestreckte Raum der Abteilungsbücherei mit den großen Fenstern war ohne Aufsicht und Besucher. Das Licht lag hell auf den abgewetzten Stellen der grünen Tischbespannung; es roch nach dem Staub der Bücherborde, die schwer belastet die Wände säumten. Die Ärmlichkeit des Raumes, die hilflose Pedanterie, mit der ein Handbesen die Wolle der Tischbespannung abgekehrt zu haben schien, um den Staub in die Ecken zu treiben, in denen er die papiernen Mumien juristischer Geister fraß, die alten ausgebleichten Tintenkleckse, Zeugen vergangenen Fleißes, erinnerten – Wichmann wußte nicht, warum – an den Inspektor Baier und seine Brille in der billigen Stahlfassung. Während Wichmann die Aufschriften auf den Rücken der Gesetzblätter, der Kompendien und Kommentare zu entziffern suchte, fiel ihm ein, daß Herr Baier wirklich als der für die Ordnung dieser Bibliothek Verantwortliche genannt worden war.
Ein einziger ungeordneter Fleck entzog sich der Vision von der Obhut des bebrillten Mannes und gehörte einem anderen Reiche an. Es war ein kleines, für sich stehendes Pult am Fenster. Schief liegende Akten, eine Illustrierte und ein Paar Damenhandschuhe, deren Größe Wichmann höchstens auf Nr. 5 schätzte, schoben sich auf der Platte durcheinander. Die Handschuhe, schwarzes Glacé, weiß abgenäht, mit einem ausgerissenen Finger, entsprachen jener flotten Seidenkappe, die am Kleiderständer baumelte und als zweites Hauptstück eines Indizienbeweises Schlüsse auf den persönlichen Mittelpunkt der Unordnung zuließ.
Es geziemte dem Regierungsassessor, hiervon Abstand zu halten und sich mit einem grünen Fragezeichen zu beschäftigen. Obwohl kein Verzeichnis aufzufinden war, fand Wichmann sich in der Ordnung der Bücher verhältnismäßig rasch zurecht und stellte die gesuchten statistischen Unterlagen zusammen.
Der angezweifelte Satz bestand zu Recht. Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger nahm im Sommer regelmäßig ab, im Winter zu. »Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung hielt sich im August 1928 noch auf dem jahreszeitlich bedingten niedrigen Stand.« Noch … noch … ja, denn ab September konnte sie, eben aus jahreszeitlichen Gründen, wieder ansteigen. Vielleicht steckte mehr in diesem »noch«, vielleicht, nein, sogar sicher, vermutete der Verfasser des Exposés, daß die Arbeitslosigkeit im beginnenden Winter über das Maß einer saisonalen Schwankung hinaus anwachsen werde. Galt das Fragezeichen diesem »noch?« Kaum, denn nicht dieses Wort, sondern der ganze Satz war mit Bleistift unterstrichen. Wenn die grüne Fragezeichenschlange sich dennoch im Zweifel über den Pessimismus der Ausführungen Grevenhagens kringelte, so hätte der Staatssekretär sie zweckmäßiger neben andere, in dieser Richtung sehr viel deutlichere, Behauptungen gesetzt. Man mußte doch annehmen, daß ein Staatssekretär sich zweckmäßig zu verhalten verstand.
»Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger …« Die Behauptung stimmt eben einfach, Herr St., die Sache stimmt. Warum machen Sie mit Ihrem spitzen grünen Stift ein Preisrätsel daraus?
Wichmann schüttelte den Kopf, brachte Jahrbücher und Zeitschriften wieder an ihren Platz, legte die blaue Mappe mit dem Exposé links beiseite, wie es auch Grevenhagen auf seinem Schreibtisch getan СКАЧАТЬ