Akron führt in diesem Zusammenhang Schopenhauer an: Der Mensch kann zwar tun, was er will; aber er kann nicht wollen, was er will.
Was also können wir tun?
Die erste Antwort Akrons lautet: „Vergiss, dass du da herauswillst!“
Solange du noch herauswillst, kreierst du dir aufs Neue eine Karotte und bleibst ein Esel. Zugegeben: ein edler Esel, ein Esel ohne Fehl und Tadel, ein Esel, dessen sämtliche Chakren – mit viel Mühe – bereits rechtsdrehend synchronisiert sind (dank der Chakra-Orgeln!). Aber eben doch ein Esel.
Die zweite Antwort – und ihr sind das vorliegende Buch und die dazugehörigen Karten gewidmet – lautet: „Du hast in deinem Wunsch, aus der Polarität herauszutreten, etwas sehr Wichtiges übersehen.“ Deshalb soll dieses Buch zeigen – oder, bescheidener: andeuten –, welche wichtigen Schritte du bei dieser Arbeit bisher übersehen hast. Ich selbst kann das, was Akron und Giger uns mit ihrem Buch mitzuteilen versuchen, am besten in der Form eines Bildes ausdrücken:
Das Menschsein ist vergleichbar mit einem Haus. Mit einem großen Haus. Schon in der Bibel finden wir die Allegorie des Turmbaus zu Babel. Jenes Haus wurde mit dem erklärten Ziel errichtet, in die Nähe Gottes zu gelangen: „Wohlan“, sagten sie, „lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis zum Himmel reicht. Wir wollen uns einen Namen machen.“ (Genesis 11, 4)
So ist es immer. Immer wollen wir hoch hinaus, um uns einen Namen zu machen. Wir sind alle irgendwie auf dem Weg nach oben. Erinnern wir uns der Darstellungen des babylonischen Turms im Mittelalter: spiralförmig geht es außen um den Turm herum nach oben, in schwindelnde Höhe hinauf. Das ist die Welt des „Guten“. Und je höher hinauf wir gelangen, je mehr wir die irdische Welt verlassen, desto näher wähnen wir uns der Majestät Gottes. Bald schon, so glauben wir, sitzen wir Gott zur Rechten. Jesus selbst wird dir leutselig seinen Arm um die Schulter legen und dich als seinen jüngeren Bruder willkommen heißen. 95 Prozent aller „esoterischen“ Bücher belehren mich darüber, was ich auf diesem langen und beschwerlichen Weg nach oben (der Turm ist wirklich sehr hoch!) alles zu tun und zu lassen habe: Fasten und Beten und Yoga und rechtsdrehende Müslis und die Chakrenorgeln nicht zu vergessen! Und das Sperma beim Orgasmus – bitteschön – höchstens durch die geschlossene Schädeldecke nach oben. (Hör jetzt endlich damit auf, Monika!)
Dann – und nur dann – „machst du dir einen Namen“. Du heißt dann eines Tages: Sai Mai Baba (Man muss es hessisch lesen ...). (Monika, ich warne dich!)
Aber: So wie jeder Baum, der mit seiner Krone in den Himmel ragt, nach unten noch einmal so lange Wurzeln hat, genau so hat auch der Turmbau des Guten einen Keller. Und dieser Keller besteht nicht etwa nur aus einer einzigen Etage, nein, er reicht genauso weit in die Tiefe, wie der Turm über der Erde in die Höhe reicht. Dante hat das noch gewusst. Sein Inferno beschreibt die Vielfalt der Etagen der seelischen Unterwelt als „die zehn Kreise der Hölle“, zu denen es ebenfalls spiralförmig, gleichsam in Serpentinen, hinabgeht!
Das ist das Gesetz der Polarität! So, wie dich das Gute hinaufführt, so führt dich auch das Böse hinab. Denn solange du nicht erkennst, dass das eine die Voraussetzungen dafür schafft, dass sich das andere entwickeln kann, hast du statt eines geschlossenen Ganzen immer zwei Seiten, die du isoliert voneinander betrachtest. Um bei meinem Bild zu bleiben: Mit jeder Etage, die du in dir selbst nach oben aufstockst, erzeugst du unweigerlich eine weitere Etage, die nach unten hinabführt. Das wäre nicht weiter problematisch, käme nicht noch eine zusätzliche Erschwernis hinzu: Du glaubst nicht, dass es so ist, und nicht im Traum kämst du auf die Idee, dir die unteren Etagen freiwillig anzuschauen. Du gehst einfach nicht gern in diese Regionen. Stattdessen projizierst du sie hinaus in die Welt: Dort sei das Böse, sagst du! Nach oben treibt es dich mit Macht, damit du dir „einen Namen machst“, das Unten aber fliehst du.
Genau hier setzen Buch und Karten von Akron und Giger an. Beide fordern klipp und klar: Schau dir den unteren, verborgenen Teil deines Turmbaus an. Du hast ihn selbst in deiner eigenen Tiefe errichtet, hast ihn selbst gebaut, weil du dir „oben“ einen Namen machen wolltest. Es ist der Keller deines EGO-Turmes oder, wenn dir das Wort besser gefällt: der dunkle Schatten deines zum Licht der Sonne aufstrebenden Turmes.
Akron und Giger sind erfahrene Reisende in der Schattenwelt. Sie kennen diese seelische Unterwelt und beschreiben sie plastisch und anschaulich: der eine in Bildern, der andere mit Worten. Und sie wissen: Die Landschaften, die Wesen, die dort leben, gehören zu dir. Sie wollen, dass du deinen eigenen Schatten kennen lernst; sie wollen, dass du dich zu ihm bekennst. Dass du ihn nicht mehr ins „Böse“ verbannst, sondern ihn nach Hause, ans Licht, holst. Solange du auf deinem Weg nach oben warst, hast du ihn verbannt, ins Exil gezwungen, in die Diaspora der Seele. Dort unten wandert er nun herum, wie Ahasverus, der ewig ruhelose, schattenlose Gesell, der deshalb keinen eigenen Schatten hat, weil er selbst der personifizierte Schatten ist.
Was dem unerlösten Teil in dir fehlt, hast du in dir selbst! Du, der seinen Schatten „in die Welt geworfen“ (aus sich selbst hinausprojiziert) hat, um sich nicht zu ihm bekennen zu müssen. Der „Schatten-Tarot“ führt dich in ähnliche Bereiche wie die tiefere Symbolik in der Geschichte des Peter Pan. Peter hat seinen Schatten verloren, und jetzt jagt er ihn. Er will ihn wiederhaben. Du hast deinen Schatten ebenfalls verloren, aber du willst nichts mehr von ihm wissen. Jetzt jagt er dich! Er bittet dich, oder er zwingt dich, ihn endlich zur Kenntnis zu nehmen – ganz wie du willst. Er kommt aus deinem eigenen Unbewussten, mit dem du nichts zu tun haben möchtest.
So erfahren wir es auch aus dem Mythos: Jeder Held muss die Reise in die Unterwelt antreten. Dazu braucht er einen Führer. Aeneas hatte eine Sibylle, diese hatte wiederum einen goldenen Zweig. Auch Dante hatte den Dichter Vergil. Und der heutige Reisende hat Akrons und Gigers „Schatten-Tarot“. Nicht als Sibylle, sondern als Wanderkarte. Als Geländer, an dem entlang du dich in dieses unbekannte Bauwerk, das du selbst bist, hineinbegeben kannst. Akron und Giger geben dir die inneren Koordinaten zur Navigation, in Bild und Wort. So entstehen in dir deine eigenen Bilder von dieser geheimnisvollen inneren Welt.
Akron und Giger hatten den Mut, sich in diese Terra incognita der Seele hineinzubegeben. Mut erfordert es auch, ihnen dorthin zu folgen.
Was erschauen wir in jener Welt?
Nicht etwa die „Wahrheit“ oder den „letzten Sinn“. Aber gewiss einige verlorene, in fremden Farben schillernde Mosaiksteine aus dem erstaunlichen Gesamtkunstwerk, das wir „Seele“ nennen. Lange waren sie in deinen eigenen unteren Etagen verschüttet. Jetzt kannst du sie betrachten und in dein Selbst integrieren. Aber sei auf der Hut, dass du deine Tiefe nicht unter der Hand wieder zu einer neuen „Höhe“ machst, zu einem Ziel, das es zu verwirklichen gilt. Halte dich nicht fest! Nimm es so, wie Dante es nehmen sollte, dem Vergil sagte: „Schau hin und gehe weiter!“ Mach keine Geschichten daraus! Beiß dich nicht fest! Das haben Magier zu allen Zeiten getan und sind daran kläglich gescheitert.
Wo liegt der Ausweg aus dem Dilemma des Menschseins? Nun, vielleicht ganz einfach hierin: Nachdem wir Jahrtausende lang den Turm zu ersteigen versuchten und doch nicht an die Himmelspforte kamen; nachdem wir jetzt auch noch in die tiefsten Abgründe der Seele geschaut und wiederum nicht gefunden haben, was wir suchten – nach alldem sollten wir jetzt endlich dieses Bauwerk ganz normal durch den Haupteingang wieder verlassen.
Wissend, dass wir gar nichts mehr wissen können.
Peter Orban (und Monika), Frankfurt im Juli 1992
HINTERGRUND – 1991/2008
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