Gegendiagnose II. Группа авторов
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Название: Gegendiagnose II

Автор: Группа авторов

Издательство: Автор

Жанр: Социальная психология

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isbn: 9783960428138

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СКАЧАТЬ Subjekte wären, sofern sie die »progressiven Momente der Krankheit in Anspruch [nehmen]« (Sozialistisches Patientenkollektiv & Sartre 1972: S. 61). Diese Haltung hatte jedoch auch einen gefährlichen Effekt: Sollten Parolen wie »Aus der Krankheit eine Waffe machen« (Sozialistisches Patientenkollektiv & Sartre 1972) ein neues Selbstbewusstsein erschaffen und so zu einem Umsturz der Verhältnisse führen, entstand für einige Betroffene durch den Verweis auf die Psychiatrie und Therapie als herrschaftsstabilisierende Institutionen ein Vakuum in Bezug auf gewollte Unterstützung. Dabei ging unter, dass auch gängige medizinische Erklärungsmodelle einigen Betroffenen durchaus helfen konnten, mit ihren Krisensituationen umzugehen.

      Manche Gruppen versuchten daher Unterstützungsstrukturen aufzubauen, in denen sie sich möglichst ohne den Einfluss einer kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft um sich selbst kümmern konnten (vgl. Lehmann 1998: S. 31). Wieder andere versuchten mit Unterstützung von sog. Allies10 Strukturen aufzubauen, in denen Menschen vor psychiatrischer Gewalt geschützt leben und gleichzeitig ihre Krisen durchleben konnten (vgl. ebd.).

      Dies ist der Standpunkt, an dem ich die heutige linke Bewegung nach wie vor sehen würde. Während die Psychiatrie-Reform im Zuge der 1970er Jahre gestarteten Psychiatrie-Enquête versucht hat, einige akademische Kritiken umzusetzen und in ihrer Reform die sog. Sozial-Psychiatrie erschaffen hat, haben radikalere Gruppierungen versucht sich ein unabhängiges Unterstützungssystem aufzubauen. Dabei gibt es innerhalb eines bewegungslinken Kontextes in Deutschland scheinbar zwei Hauptmeinungen zum Thema Psychiatriekritik und Unterstützungsarbeit: Die einen gehen davon aus, dass die alten Kritiken in der Psychiatriereform aufgehen würden und lediglich mangelnder Zugang zum System und stereotype Darstellung noch aktuell vorhandene Probleme seien. Diese Position schiebt somit die Verantwortung für eine als notwendig betrachtete ›Heilung‹ dem medizinisch-therapeutischen Komplex zu. Die andere Position beinhaltet meist den Gedanken, dass die Kritik am Unterstützungssystem bereits formuliert worden wäre, sich aber real in der herrschenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nichts verändern kann. Diese Position betrachtet somit die spezifischen Verhältnisse als gegeben und unveränderbar und die Betroffenen müssten sehen, wie sie selbst in dieser Welt zurechtkommen.

      Gemein ist beiden Positionen, dass als ›krank‹ erklärtes Verhalten auf irgendetwas in einer Person verortetes projiziert wird und diese daher professionelle Hilfe benötigen würden. Entweder es heißt, die Person trage keine Verantwortung für ihre ›Krankheit‹, da sie biologisch oder rein gesellschaftlich bedingt wäre, oder sie trüge die volle Verantwortung für ihr Handeln. Beides führt dazu, dass Menschen in Krisensituationen vor allem an sog. ›Professionelle‹ verwiesen werden.11

      Und nun?

      Die Fragen, die sich nun anbieten, wären: Was kann eine emanzipatorische Bewegung aus den vorhandenen Analysen lernen und wie könnte sich eine linke Bewegung einer fortschrittlicheren Unterstützung annähern? Dafür möchte ich einzelne Bezugspunkte für eine Selbstreflexion anbieten, welche sich aus den vorher beschriebenen Kritiken ergeben.

      1. Die Differenzlinie psychisch ›gesund‹ // psychisch ›krank‹ ist gesellschaftlich konstruiert.

      Es soll an dieser Stelle nicht behauptet werden, dass das Verhalten vom Menschen nichts mit biologischen Faktoren zu tun haben kann (vgl. Cooper 1972: S. 32; Szasz 1972: S. 27). Jedoch besitzt sowohl Verhalten als auch der Umgang mit Verhalten immer eine gesellschaftliche Dimension (vgl. Cooper 1972: S. 14; Laing 1994: S. 50; Rose 2000: S. 310). Sich als Verbündete_R für gesellschaftliche Dimensionen von Krisen zu sensibilisieren und nicht das daraus resultierende Verhalten von Menschen zu problematisieren, kann Entlastung für Betroffene schaffen. Gerade Strukturen wie der kapitalistische Verwertungsdruck, patriarchale und sexistische Verhältnisse, struktureller und direkter Rassismus, Unterdrückung und Ächtung von Lebensweisen etc. sind allgegenwärtig und schaffen beständige Drucksituationen, die zu Verhalten führen können, das zwar einen Sinn erfüllt, für nicht Betroffene jedoch nicht nachvollziehbar ist.

      Reflexionsfragen: Bin ich mir bewusst, dass das individuelle und situative Verhalten von Menschen immer auch in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext zu betrachten ist? Was kann ich tun, um den ausgeübten Druck auf Personen zu verringern und sie dadurch zu entlasten? Was kann ich tun, um den Druck zu verringern, den ich auf Menschen ausübe? In welchen Situationen wird es mir selbst zu viel? Wie kann ich Räume schaffen, in denen Betroffene so sein können, wie es ihnen gut tut? Wie würde ein solcher Raum für mich aussehen?

      2. Eine Klassifizierung menschlichen Verhaltens – von anderen als den Betroffenen selbst – ist abzulehnen.

      Eine Diagnose stellt eine externe Beschreibung der Symptome einer komplexen Lebenssituation einer Person dar und verdeckt dabei die gesellschaftlichen und gruppenbezogenen Prozesse, die das Verhalten ausgelöst haben (vgl. Cooper 1972: S. 32; Szasz 1972: S. 26). Damit einhergehen kann ein Prozess der Depersonalisierung eines Menschen, da die Gefahr besteht, dass dieser fortan nur über die Diagnose definiert wird oder sich selbst nur darüber definiert (vgl. Laing 1994: S. 27). Gesellschaftliche Dimensionen werden spätestens ab dem Punkt der Klassifikation ausgeblendet und eine – meist naturalisierende – Erklärung für das Verhalten in die Person hineingelegt (vgl. Rose 2000: S. 306).

      Reflexionsfragen: Was löst es bei mir aus, wenn mir eine Person von einer (psychischen) Diagnose erzählt? Wie sehr nutze ich Diagnosen von Menschen, um mir ihr Verhalten zu erklären? Projiziere ich in meinem Umfeld (verdeckte) gesamtgesellschaftliche Verhältnisse auf das Verhalten von Einzelpersonen und mache sie dafür (allein) verantwortlich? Erwarte ich aufgrund von Diagnosen bestimmtes Verhalten von Personen?

      3. Den Menschen als selbstverantwortliches Subjekt betrachten.

      Durch eine naturalistische Betrachtung von psychosozialen Krisen entsteht häufig ein Herrschaftsgefälle zwischen ›gesunden‹ und ›krank‹ klassifizierten Personen. Dies drückt sich im institutionellen Bereich nicht zuletzt durch den Zwang zur sog. ›Krankheitseinsicht‹ (vgl. Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie 2000: S. 155 f.) aus. Eine Ursache hierfür lässt sich darin sehen, dass die Definitionsmacht über den Gesundheitsstatus, bei Dritten liegt (vgl. Szasz 1972: S. 57). Diese versuchen meist, an Hand von historisch gewachsenen ›wissenschaftlichen‹ Kriterien (sprich weiße, männliche, heterosexuelle, westliche Sicht) (vgl. Haraway 1988: S. 585), die ›dysfunktionalen‹ Strukturen innerhalb einer Person zu verorten. Mit dem dadurch entstehenden hierarchischen Verhältnis, geht meistens auch eine Absprache der Selbstverantwortung für die eigenen Handlungen einher (vgl. Rose 2000: S. 315).12

      4. Emanzipatorische Diskurspositionen öffentlich vertreten.

      Die gesellschaftlichen Verhältnisse erlauben es nicht allen Menschen gleichberechtigt an der Gestaltung von Diskursen teilzunehmen. Einer der Ausschlussmechanismen besteht darin, den ›Wahnsinn‹ per Definition aus dem Diskurs auszuschließen (vgl. Foucault 2014: S. 16). Dies verdeutlicht noch einmal die Notwendigkeit von Allies sich öffentlich zu positionieren. Die Rolle von Unterstützer_Innen darf sich nicht durch ein hierarchisches Verhältnis definieren, stattdessen muss die Definitionsmacht über die Situation in der Hand der Betroffenen liegen (vgl. Laing 1994: S. 27). Die eigene privilegierte Stellung zu hinterfragen und sowohl zu teilen, als auch zu nutzen um eine politische Bewegung zu stärken, СКАЧАТЬ