Selbstverständlich ist nichts mehr. Hans Bürger
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СКАЧАТЬ style="font-size:15px;">      Auch der Weg zu Gott, zur „göttlichen Ordnung“, ist ohne die Umleitung über das Ich nicht auffindbar. Es ist also schwieriger geworden, da plötzlich mehrere „Umleitungen“ möglich sind. Über den Verstand, das Bauchgefühl oder das Herz.

      Aber diese Hinwendung zum Ich bleibt für unsere Suche nach dem guten Leben im neuen Koordinatensystem des Ichs nicht ohne Folgen. Denn die Gebrauchsanweisung fehlt. Jeder Mensch gelangt also zu einem anderen „guten“ und erträumten Lebensziel. Und weil durch den fortschreitenden Individualismus auch die Philosophie die Frage nach dem guten Leben nicht mehr verwissenschaftlichen kann, verschwindet diese Frage für lange Zeit aus den philosophischen Lehrstühlen der Universitäten.

      Seit einiger Zeit scheint das allerdings nicht mehr zu gelten. Denn plötzlich war sie da. So rund um die Jahrtausendwende. Die unerwartete Renaissance der Frage nach dem guten Leben.

      Aber warum? Was sind die Gründe dafür, dass Philosophen wieder reden und schreiben und Menschen wieder zuhören und lesen wollen.

      Die Philosophin Dagmar Fenner sieht außer- und innerphilosophische Ursachen. Generell sei es das „allgemein gewachsene Bedürfnis nach Handlungsorientierung“ und zudem auch die neue Verständlichkeit der einfacher formulierenden Philosophen.

      Andere Philosophen sehen die Krise der Moral im weiteren Sinne als Ursache für die Wiederbeschäftigung mit der Frage nach dem guten Leben. Eine Krise, die aus meiner Sicht durch die zweite große Weltwirtschaftskrise ab 2008 zumindest mitausgelöst worden ist. Wenn zu viele Menschen gleichzeitig vom „So kann es nicht mehr weitergehen“ sprechen, vergrößert sich das Potenzial zum grundsätzlichen Umbruch. Die einen sehen ihn mit Vernunft, die anderen treibt die Lust auf Unvernunft. So war es immer, und so wird es wohl immer sein.

      Zunächst zur Vernunft: Diesem Konzept zufolge soll der Mensch vor allem sein Hirn einsetzen, genauer seinen Verstand – und er soll dabei immer versuchen, sich zu kontrollieren. Klingt nicht wirklich neu (Descartes!), dennoch ist ein Unterschied zur Zeit der göttlichen Ordnung klar erkennbar. Denn entscheidend ist nicht, jemandem zu dienen, sondern das Regelwerk für ein gutes, rationales Leben in sich selbst zu finden, und so viele Wünsche und Ziele wie möglich in seinem Leben umzusetzen, aber immer unter der Prämisse, dass der Weg dorthin dem Verstand gehorcht. Spontaneität oder fehlende Impulskontrolle sind unerwünscht, ausschlaggebend ist der eiserne Wille. Es geht also nicht um die spontan an- und einfallenden Wünsche, sondern um Ziele und Erfüllungen stets mit dem Blick auf das ganze Leben. Dazu bedarf es einer genauen Einschätzung von Zeitdimensionen und – vor allem – des permanenten Eingeständnisses von Endlichkeit. Das bedeutet natürlich auch immer wieder Verzicht. Verzicht auf den kleinen, spontanen Wunsch zugunsten der Erreichung eines der großen Lebensziele. Wobei diese Ziele nicht unabhängig nebeneinander, sondern in einer „vernünftigen“ Verbindung zueinander stehen sollten. Denn es müssen auch Prioritäten gesetzt werden. Dazu ist eine gute Planung notwendig. Der Philosoph Martin Seel spricht von Konstellationen von Wünschen.17 Die Wünsche sollten keinen illusionären Charakter aufweisen („Ich bin zwar schon im letzten Lebensdrittel, werde aber noch bei olympischen Spielen mitmachen.“) und sinnvoll miteinander vereinbar sein.

      Beim Hedonismus wählen Menschen den umgekehrten Weg: Das Wort hēdonē´ kommt aus dem Altgriechischen und kann kaum besser übersetzt werden als mit Lust und Genuss. Dieses Streben nach Lusterfahrung, so oft und so intensiv wie nur irgendwie möglich, soll hier nicht näher erläutert werden. Jede und jeder weiß, was gemeint ist. Faktum ist, dass die sogenannte hedonistische Theorie eine der philosophischen Grundvarianten für ein gutes Leben ist. Auch diese Lebensform ist aus der Antike bekannt. Nicht selten wird Gott selbst zum Verursacher erkoren, sei er es schließlich gewesen, der diese Lustbedürfnisse dem Menschen mitgegeben habe, was könne also verwerflich daran sein, das Angeborene auch auszuleben. Ein gutes Leben ist demnach umso besser, je größer die Anzahl lustvoller Erfahrungen innerhalb eines Gesamtlebens ist.

       G = L / A G (Gutes Leben) = umso höher, je größer L (Lusterfahrung) oder je kleiner A (Aufwand, um zur Lusterfahrung zu gelangen)

      Da schimmert als Lebensformel „Die Mischung macht’s!“ durch. Auf den ersten Blick mag das stimmen, auf den zweiten nicht unbedingt. So, wie nicht jeder Mensch ein aus bestimmten Eigenschaften zusammengeschüttetes Misch- oder Durchschnittswesen ist, so sind es auch die Theorien zum guten Leben in ihrer philosophischen Ausprägung nicht. Was dabei herauskommt, wenn Wissenschaften, die aufgrund fehlender Gesetzmäßigkeiten (nicht etwa wie in der Physik: Der Teller fällt vom Tisch auf den Boden, wenn ich ihn zu weit über den Tischrand schiebe = Gravitation!), streng genommen, keine Wissenschaften sind, zeigt die Ökonomie. Noch immer wird an den Volkswirtschaftslehrstühlen der Universitäten der „Homo oeconomicus“ gelehrt, ein Kunstmensch, der immer rational handelt. Wissend, dass die Verhaltensökonomie viele der – mit der Aufrechterhaltung der Theorie des absolut immer ökonomisch sinnvoll agierenden Menschen entstandenen – mikroökonomischen Regeln längst widerlegt hat.

      Neben jenen Menschen, die unter einem guten Leben ein eher hedonistisches oder ein rationales verstehen, gibt es auch jene, die ein an Gütern im allerweitesten Sinn orientiertes Leben als „gut“ ansehen.

      Ganz neu ist die aktuelle individuelle Suche nach dem Guten im 21. Jahrhundert natürlich dennoch nicht. Trotz all der früheren klaren Orientierungen vom Himmel herab dachte auch schon Sokrates, dass immer ein wenig Spielraum bleibe, wenn er die Menschen dazu aufforderte, in jedem Gespräch das eigene Denken zu überprüfen. „Ein Leben ohne Selbstprüfung ist nicht lebenswert.“18 In anderen Übersetzungen heißt es sogar, dass man sich ein Leben ohne Selbstcheck „gar nicht verdient“ habe.

      Natürlich kann das auch übertrieben werden. Zeitgenossen, die tagtäglich – und es gibt sie – über die Für und Wider ihres momentan geltenden Lebensentwurfes sinnieren, sollen wenn möglich nicht zum Vorbild gereichen. Sehr oft – muss man bedauerlicherweise feststellen – gleiten diese bemitleidenswerten (kein Zynismus!) Einzelkämpfer ins Neurotische ab und landen mehr oder weniger lang im Zwang.

       Versuch zum „objektiv“ Guten

      Bisher haben wir eher von subjektiven Theorien gesprochen, den Wünschen, Zielen und Bedürfnissen, die eine einzelne Person in sich trägt und mit deren zumindest teilweiser Erfüllung sie gerne ein an und für sich gutes Leben basteln würde. Legen wir aber die Betonung auf an und für sich, also auf das, was die deutsche Sprache unter „im Allgemeinen“ versteht, wird es deutlich schwieriger mit der Definition des guten Lebens. Und man kann es drehen und wenden, wie man will, der Mensch wird immer auch auf der Suche nach etwas Allgemeingültigen sein. Ob das dann wissenschaftlich fundiert ist, ist ihm eher egal. Es sollte also doch etwas sein, worunter viele Menschen ein gutes Leben verstehen könnten – unabhängig von den individuellen Lebenszielen des Einzelnen. Etwas „objektiv“ Gutes und Wertvolles. Hier landen wir sehr rasch bei Charles Taylor. Der 1931 in Montreal geborene Politikwissenschaftler und Philosoph sieht die Wurzeln für die Ratlosigkeit der Moderne ebenfalls in der späteren Neuzeit, als den Menschen schrittweise die „umfassende Ordnung“ abhandengekommen ist. Taylor spricht von einer kosmischen Ordnung und einer Kette der Wesen. Wir haben diese Kette bereits erwähnt: Gott, Kirche, Hierarchien – und viel mehr ist da nicht. Der Verlust dieser Ordnung leite eine Verengung des Lebens ein, so Taylor weiter. Eine Reduzierung vom großen Ganzen auf das Ich. Dass Menschen das Private zugunsten einer beruflichen Karriere opfern, ist nicht neu, dass aber heute viele meinen, sie müssten mit ihrem Leben so verfahren, weil es sonst ein vergeudetes wäre, stimmt schon längere Zeit nachdenklich.

      Laut Taylor lande der Mensch so beim „Ideal der Authentizität“. Ideal ist ironisch gemeint, wenn der kanadische Philosoph gleichzeitig darauf hinweist, wozu dieses СКАЧАТЬ