Selbstverständlich ist nichts mehr. Hans Bürger
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СКАЧАТЬ kann ihn suchen, vielleicht erkennen, bestimmte Dinge können auch einen Sinn ergeben, herstellbar ist er nicht. Warum fragen wir überhaupt nach dem Sinn? Hat es Sinn, nach dem Sinn zu fragen?

      „Fällt dir nichts Sinnvolleres ein?“, war noch eine der nettesten Antworten von Freunden, Bekannten und Kollegen, als ich ihnen von meinem Buchprojekt erzählt habe. Von Zeitverschwendung bis „das Leben ist der Sinn“ reichten die Argumente gegen die intensivere Beschäftigung mit dem Sinn.

      Nicht immer hatte ich Zeit und Muße für die ausführliche Erklärung. Die Kernantwort war und ist immer dieselbe. Es gehe ja gar nicht um den großen Sinn des Lebens. Es wäre doch vermessen, als politischer Journalist auf diese einzig wirklich große Frage der Menschheit eine Antwort auch nur suchen zu wollen. Es sollen mögliche Faustregeln und Anregungen angeboten werden, die einen in bestimmten Handlungen mehr oder weniger deutlich einen Sinn erkennen lassen. Und das auf mehreren Ebenen.

      Da ist natürlich in erster Linie der Mensch selbst. Denn wie gesagt: Arbeit kann und wird voraussichtlich in den kommenden Jahrzehnten als bisheriger Hauptsinnstifter außerhalb des Familienlebens für viele von uns und vor allem für unsere Kinder und Enkel in welchem Ausmaß auch immer wegfallen.

      Und was dann?

      Aber nicht nur der Mensch als Individuum soll hier Objekt der Sinnfrage sein. Auch die Wirtschaft. Wozu wird der Produktionsfaktor Mensch noch gebraucht werden? Und wenn tatsächlich in immer geringerem Ausmaß, woher soll das Einkommen für Konsumenten kommen, und vor allem: Was wollen Menschen, die immer weniger arbeiten noch konsumieren? Man stelle sich vor, immer mehr Menschen finden Gefallen an Dingen, die nichts kosten, und hören auf, Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen. Was würde das auf Dauer für den Kapitalismus bedeuten?

      Und was wird schließlich der Sinn von Politik sein, wenn ein immer größer werdender Teil des Wahlvolks schon vor demokratisch gewählten Volksvertretern umgedacht hat und diese mit ihren Parteiprogrammen dem Willen der Wähler zeitlich hinterherhinken?

      Eine Partei, die Wirtschaftswachstum nicht in ihrem Programm hat beziehungsweise dieses Wirtschaftsziel nicht in das Spitzenfeld ihrer Prioritätenliste aufgenommen hat, ist in der westlichen Welt nicht zu finden, und wenn doch, stehen ihre Erfolgschancen schlecht. Noch. Das könnte sich allerdings in diesem Jahrhundert rasch ändern. Was jedoch auch das Ende des Kapitalismus wäre.

      Was aber käme nach dem Kapitalismus? Würde das neue System einen Sinn ergeben?

      Die Sinnfrage wird sich, ob wir das nun wollen oder nicht, durch alle Gesellschaftsebenen ziehen. Von uns als Einzelkämpfer bis zum multinational tätigen Konzern.

      Ein Kapitel in meinem ersten Buch (2009), welches ich zusammen mit dem weit über den deutschen Sprachraum hinaus bekannten Ökonomen Prof. Kurt W. Rothschild geschrieben habe, lautet: „das Ende der Selbstverständlichkeiten“. Heute, zehn Jahre später, ist es sinngemäß zum Titel dieses Buches geworden.

      Jedenfalls erscheint heutzutage noch viel weniger als selbstverständlich als damals und erst recht gegenüber den 1960er-/1970er-Jahren. Was gilt denn noch? Was hält denn noch? Ehe, Beruf, politische Koalitionen, der Glaube an eine bestimmte Religion? Und dazu der Glaube an ein Produkt – an ein Objekt der Begierde am Gütermarkt? An eine Form des Zusammenlebens, einen Gott, einen Arbeitgeber, eine Stammpartei, eine Automarke, ein Kleidungsgeschäft, eine Skimarke. Ich könnte sie alle aufzählen, diese „Das und sonst nichts“-Kaufentscheidungen von damals, auch die meiner Eltern. Vom Kleidungsgeschäft über das Wirtshaus bis zur Automarke.

      Drei fixe Mahlzeiten am Tag.

      Zwei oder drei fixe Radio- und/oder Fernsehsendungen.

      Fixe Sporteinheiten – zumindest bei einem Teil der Bevölkerung.

      Ein Kinotag. Ein Einkaufstag. Und – erzwungenermaßen – in der Zeit der Ölkrise: der autofreie Tag. Und heute? Vielfältige Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens. Zweifel an Religionen, mehrere, einer oder kein Arbeitgeber, keine Stammpartei, mehrere Automarken, Hunderte Kleidungsanbieter, nicht ganz so viele Skimarken. Große, zig kleine oder gar keine Mahlzeiten, keine fixen Radio- und/oder Fernsehsendungen, kaum sportliche Betätigung oder nur dann, wenn zwischen 06:00 Uhr und 07:00 Uhr oder ab 20:00 Uhr Lust und Zeit bleiben. Kein spezieller Kinotag, sondern irgendwann, wenn es die Zeit zulässt. Kein geplanter Einkaufstag, sondern shoppen zwischendurch. Keine acht Stunden Schlaf.

      Gefragt sind Entscheidungen. Nicht eine. Dutzende. Und das innerhalb von 24 Stunden. Sechs Stunden Schlaf weggerechnet (im Schnitt – variabel).

      Schon 1994 (!), der Mobiltelefonwahn war noch ein Marktbaby, wird ein interessantes Wort geboren: die (mobile) Multioptionsgesellschaft (als Titel eines Buches des damals 53-jährigen Schweizer Soziologen Peter Gross, Co-Autor Stefan Bertschi). Gross schreibt angesichts der auf den Markt kommenden Mobiltelefone schon vor einem Vierteljahrhundert – lange vor dem unmittelbaren Siegeszug des Handys und noch viel länger vor dem ersten Smartphone – von einer „endlosen und kompetitiven Ausfaltung neuer Möglichkeiten“ in modernen Gesellschaften. Und dass die Ausfaltung neuer Möglichkeiten nicht nur die Regale der Supermärkte und das Angebot an Dienstleistungen betreffe, sondern auch das Reich des Geistes. In keiner Sphäre sei der Bewohner einer solchen Gesellschaft vor den Optionen geschützt, die sich ihm darbieten würden. Dieser Bewohner sei aber nicht Opfer, sondern der Wille zum Mehr und zur Steigerung sei im Herz des modernen Menschen implantiert. Rund 20 Jahre später wird der bekannte deutsche Soziologe Hartmut Rosa von der „Steigerungslogik“ sprechen.

      Dennoch kann in einem Punkt auch widersprochen werden. Implantiert oder eingemeißelt, wie Gross es an anderer Stelle auch formuliert, war dieser Wille zur Steigerung wohl nur in wenigen von uns. Zuerst mussten wir die Möglichkeiten sehen. Um das von permanent neuem Konsum geprägte, kapitalistische System aufrechterhalten zu können, mussten menschliche Bedürfnisse erzeugt werden, die eben nicht vorhanden waren. Natürlich kann man auch anhand dieser Betrachtungsweise nicht von „Opfer“ sprechen, aber letztlich unterliegt der menschliche Wille auch immer den Gegebenheiten des persönlichen Umfelds. Zumindest darf man es als sehr schwierig bezeichnen, die Kinder von heute komplett ohne Smartphone und Tablet oder ohne sonstige mobile Computerwelten durchs Leben ziehen zu lassen, will man doch seine Lieben abseits der Erziehung zu kritischem Konsumgeist auch nicht automatisch in eine Außenseiterisolation abgleiten lassen.

       Konsumentenverwirrung

      Fragt sich nur, ob dann, auch bei Erwachsenen, der einem zugegebenermaßen schon seit der Aufklärung innewohnende ständige Drang nach Mehr noch als sinnvoll erlebt wird. Das darf vor allem dann hinterfragt werden, wenn wie in diesem 21. Jahrhundert das „Mehr“ in immer kürzeren Abständen erlebt werden soll. Der Soziologe Peter Gross spricht schon 1994 von der „Consumer Confusion“, einer Konsumentenverwirrung, die man heute im 21. Jahrhundert durch sehr spezielle Marketingmethoden zu verkleinern versucht. Werbesprüche, die nicht nur ins Auge stechen, sondern auch gleich jene Hirnareale ansprechen sollen, die vorher bei Testpersonen in Magnetresonanzröhren oder anderen medizinischen Hochleistungsgeräten getestet worden sind. Die Werbebranche überlässt diesbezüglich nichts mehr dem Zufall. Jeder Werbespruch ist genau durchdacht und soll exakt unser Belohnungssystem im Gehirn treffen.

      Und dennoch geht die Schere zwischen der Lust auf Neues und dadurch Befriedigung erlangen immer weiter auf. Schon allein deshalb, weil die Vielfalt technischer Geräte nicht mehr bedient werden kann. Wobei die Handhabung ohnehin immer mehr in den Hintergrund tritt. Die „Habung“ genügt. Das aktuelle Smartphone des Jahres zu haben, ist mit Sicherheit für viele schon wichtiger geworden, als es in seiner Komplexität СКАЧАТЬ