Helmut Kohl. Ein Prinzip. Alexander Gauland
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Название: Helmut Kohl. Ein Prinzip

Автор: Alexander Gauland

Издательство: Bookwire

Жанр: Изобразительное искусство, фотография

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isbn: 9783948075910

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СКАЧАТЬ es den Deutschen gelungen, Konfliktlösungsmodelle zu entwickeln, deren Fehlen die Republik von Weimar zerstört hat, zum ersten Mal hat sich in Deutschland eine zivile bürgerliche Gesellschaft gebildet, hat Deutschland Abschied genommen vom lutherischen Gemeinschaftsideal. Das erste Mal haben die Deutschen ein gesellschaftliches Mindestmaß an Toleranz ausgebildet, zum ersten Mal hat auch eine politische Klasse in Deutschland pragmatischen Realismus als Tugend begriffen. Die Staatsräson der Bundesrepublik stützt sich nicht wie die des Kaiserreiches auf zwei Augen, deren Erlöschen den Staat zum Schiff ohne Steuermann werden ließ.

      Vor diesem Hintergrund ist die Welt, in der wir noch leben, leicht zu skizzieren. Die Bundesrepublik ist eine demokratische Industriegesellschaft, deren Klassenstruktur weit schwächer ausgebildet ist als die der klassischen Demokratien. Dies bedeutete von Anfang an die Suche nach dem Kompromiß als einer Strategie zur zivilisierten Beilegung von Konflikten, wenn nicht gar zu ihrer Vermeidung. Die Schlüsselworte der westdeutschen Gesellschaft sind Stabilität und Konsens. Schon am Beginn der zweiten deutschen Demokratie stand mit der sozialen Marktwirtschaft ein Ordnungsbegriff, der Ausgleich und Partnerschaft signalisierte. Alle Begriffe, die im öffentlichen Leben der Bundesrepublik eine Rolle gespielt haben, atmen diesen Geist der Konfliktvermeidung. Mitbestimmung, Friedenspflicht, innerer Friede, sozialer Friede, soziales Netz, Sozialpartnerschaft, Sicherheitspartnerschaft, konzertierte Aktion und Solidarpakt. Zu keiner Zeit hatte jene kalte Marktgesellschaft, die Margaret Thatcher und Präsident Reagan vorschwebte, in diesem Lande eine Chance. Die manchmal beklagten Verkrustungen – ob beim Ladenschluß, in der Tarifpolitik oder auf dem Arbeitsmarkt – sind die Folge eines leidenschaftlichen Sicherheitsbedürfnisses, das in dem Wahlkampfslogan der 50er Jahre: »Keine Experimente« einen überzeitlichen und allgemeingültigen Ausdruck fand. Das Bild des Staates als einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit hat sich weit von der Hegelschen Staatsmystik entfernt. Dem Streben nach gesellschaftlichem Konsens entspricht die Ausrichtung der deutschen Politik und ihrer Institutionen auf die politische Mitte. Risikovermeidung um jeden Preis mag auch die Folge des Fehlens einer homogenen Führungselite sein, da dieser Mangel fast zwangsläufig durch das Streben nach Konsens und institutionellem Zwang zu politischer Gemeinsamkeit ausgeglichen werden muß?32 Wie in der Innenpolitik, so bestand in der alten Bundesrepublik am Ende auch Konsens über die Außenpolitik, obwohl hier anders als bei den gesellschaftlichen Grundlagen die leidenschaftliche politische Debatte am Anfang stand und alle Grundentscheidungen gegen den Widerstand einer beträchtlichen Minderheit durchgesetzt werden mußten. Das galt für die Wiederaufrüstung, die NATO-Mitgliedschaft, die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, die Brandtsche Ostpolitik und die Nachrüstung. Was heute klar und einleuchtend erscheint, war am Anfang weit umstrittener als die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ausrichtung der Republik. Das eigentlich Neue an der alten Bundesrepublik ist die Selbstverständlichkeit, mit der ihre Bürger sich als Teil des Westens und seiner politischen Kultur, als Teil einer immer enger zusammenwachsenden Gemeinschaft europäischer Nationen empfinden, europäische Integration und atlantische Ligaturen gehören heute (noch!) zum Kernbestand deutscher Staatsräson.33

      Erstaunlicherweise hat die Revolte von 68 weder die innenpolitischen Grundlagen der Republik noch die außenpolitischen Richtungsentscheidungen in Frage gestellt. Dennoch war sie eine Zäsur für die bundesrepublikanische Gesellschaft, über deren Auswirkungen und Folgen noch immer gestritten wird. Doch während die konservative Publizistik noch immer alles Unheil dieser Welt mit dem Jahre 68 beginnen läßt34 und dabei übersieht, daß diese Revolte die Folge eines »konservativen« Modernisierungsschubs mit gesellschaftlichen Auflösungstendenzen in Richtung auf mehr Wohlstand, mehr Freiheit und damit verbunden größeren Wahlmöglichkeiten war, sind die damaligen Revolutionäre merkwürdig still geworden oder haben sich zu Kritikern der gesellschaftlichen Folgen von 68 gemausert.35

      Betrachtet man das Ende und nicht den Prozeß, so halten sich Negatives und Positives die Waage. Zu den Erbübeln von 68 muß man nach wie vor die Dominanz eines marxistischen Weltbildes rechnen, das den Ordoliberalismus verdrängte und uns in theoretischer Hilflosigkeit zurückgelassen hat. Die Rückkehr von Heidegger und Carl Schmitt hat auch damit zu tun, daß die Gedanken von Eucken, Röpke, Rüstow, Böhm und Müller-Armack nicht weiterentwickelt wurden und jetzt das theoretische Werkzeug zur Bewältigung der Krise fehlt. Die modische Verflachung von Erziehung und Bildung, die Aushöhlung traditioneller Institutionen wie die Auflösung des Politischen in einer zur Handlungsunfähigkeit verdammenden Betroffenheit sind weitere Negativa. Die Geringschätzung des Formalen und das Leugnen des Existentiellen haben die schon vorhandene Neigung verstärkt, alle Konflikte durch Sozialarbeit und Gesprächstherapie, durch Appelle an den »common sense« und gutes Zureden zu überwinden.

      Doch den Verlusten stehen auch Gewinne gegenüber. Das Zerstörungspotential von Großtechnik ist uns seit Friedrich Georg Jüngers berühmtem Buch geläufig, ins tägliche Bewußtsein wurde es trotz Hiroshima erst von den Grünen gehoben. Daß wir Lebenswelten nur in dem Umfang und in der Geschwindigkeit preisgeben können, wie sich neue entwickeln, daß der Markt zwar Güter, aber keine Traditionen reproduziert, gehört ebenfalls zu den neueren Einsichten. Daß die Verlangsamung des Fortschritts eine Notwendigkeit für das Wohlbefinden der Menschen wie für die Kohärenz von Gesellschaften ist, wäre in den Anfangsjahren der Bundesrepublik nicht verstanden worden. Die Bewahrung des Romantischen, des Verspielten, des Individuellen gegen demokratische Egalität und wirtschaftliche Rationalität ist gleichfalls ein Stück – vielleicht sogar ungewollter – Betroffenheitserkenntnis. Die Zivilisierung des Politischen im Umgang mit anderen Völkern gehört ebenfalls hierher. Zeigt uns doch der Bürgerkrieg in Jugoslawien, was es für die Menschen heißt, wenn ein Volk sein Sittengesetz mit Blutopfern gegen andere behauptet.

      Mag die »Toskana-Fraktion« heute Symbol für den Verlust des Politischen in der 68er-Generation sein, die zivilisierende Wirkung selbst oberflächlichster Tourismuserfahrungen läßt sich nicht leugnen. Während die ältere Generation trotz ihres »differenzierten Sprachwissens« und ihrer »kulturellen Erfahrung« mit Italien noch den »Verrat« von 1915 und 1943 verbindet, schätzen die Jungen Pinot Grigio und Bardolino. Sie sind damit trotz aller Bildungsverluste des Massentourismus in den Schoß jener weltbürgerlichen deutschen Tradition zurückgekehrt, die besonders im 18. und im frühen 19. Jahrhundert bestrebt war, sich fremde Lebens- und Kulturformen anzuverwandeln, auch wenn das politisch-kulturelle Interieur der bereisten Länder vielen verschlossen bleibt. Der Widerspruch zwischen Lebenswelt und Politik hat sich aufgelöst, und die antiamerikanisch kostümierte Revolte ist am Ende in eine weitere Verwestlichung Deutschlands gemündet. Statt des Marxismus und des Maoismus obsiegte die Pop- und Hippiekultur und die 68er wurden die kulturellen Erben Adenauers, ihre intellektuellen Wortführer zu Verfechtern der Westintegration. Wenn Jürgen Habermas sich heute zu Helmut Kohls Außenpolitik bekennt36, dann zeigt das auch die gewaltige Integrationsleistung der deutschen Nachkriegsgesellschaft, deren erster innenpolitischer Härtetest die Überführung des Generationenkonflikts in einen neuen Konsens war.

      Betrachtet man die bundesrepublikanische Gesellschaft in den 8oer Jahren, so stellt sie sich als eine reife, ausdifferenzierte Gesellschaft dar, in der die vielfältigen und individualisierten Privatwelten die Uniformität der Arbeits- und Warenwelt kompensieren. Die Errungenschaften der Vielfalt wie der Emanzipation des liberalen Individuums ermöglichen aber auch den libertären Hedonismus und Narzißmus, die Rationalität und Disziplin als die Grundlagen ihrer Ermöglichung zerstören können. Mit den Worten des verstorbenen Historikers Nipperdey: »Wo aber Einheit ist, wächst das Spaltende auch.«37 Doch dies ist das klassische Problem aller reifen Gesellschaften. Die Auflösung des Politischen in höchst unbestimmbaren Gefühlswelten, Hedonismus und Pazifismus, wie das immerwährende schlechte Gewissen der führenden Schichten, waren auch typisch für das England Eduards VII. Vita Sackville-West hat diesen Erosionsprozeß in den Edwardians gültig beschrieben, und wir finden im Ansatz in diesem Buch fast alles, was die Kulturpessimisten beklagen: Genußsucht und Entscheidungsschwäche, notorisch schlechtes Gewissen der Herrschenden und den Unwillen, den politischen Realitäten ins Auge zu sehen. Die kulturelle Überzeugung wird zur Pose ästhetischer Lebensstile und die Kraft zur Gestaltung zerrinnt in schwächliches Epigonentum, wie es Byron in seiner »Ode an Venedig« von СКАЧАТЬ