Название: Gesammelte Werke
Автор: Ricarda Huch
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 4064066388829
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In der Geschichte begann man gleichfalls auf die Quellen zurückzugehen, bemühte man sich um Feststellung der Tatsache, räumte man auf mit den grotesken Vorstellungen, die namentlich in bezug auf die Herkunft der Nationen und Dynastien mitgeschleppt waren. Daneben freilich entfaltete sich üppig wie je die Konstruktion einer deutschen Urgeschichte, die die deutsche Nation als zur Weltherrschaft berufen darstellen sollte: die heutige deutsche Sprache ist die älteste und wird einst alle anderen Sprachen verdrängen. Schon Adam, der ein deutscher Mann war, sprach sie, und durch Japhet, der vor der babylonischen Sprachverwirrung auszog, ist sie nach Europa verpflanzt worden. Es ist ein garstiger Fehler des Alten Testamentes, daß es von der Wanderung Japhets nichts berichtet; er ist zu Istein im Breisgau bestattet worden. Auch Alexander der Große war ein deutscher Held und Statthalter über das von den Deutschen unterworfene Griechenland. Jerusalem ist von den Deutschen gegründet. Die Amazonen stammen von den Sachsen ab. Die Deutschen waren, als die Söhne Japhets, auch die ersten Christen und haben bei Basel und Trier christliche Tempel gegründet. Das Gegenstück zu der Verherrlichung der Deutschen bildet eine entsprechend verächtliche Ableitung der romanischen und slawischen Völker. Solche Ausgeburten kindlicher Vaterlandsliebe waren dem Volke immer noch willkommen.
In einem merkwürdigen Gegensatz zu so wirrer Phantastik stehen die Leistungen der Deutschen auf dem Gebiete der Mathematik. Auch hier ist Nikolaus von Cusa führend. Weil er die Mathematik als die am wenigsten an die Sinnlichkeit gebundene Wissenschaft für am meisten geeignet hielt, ein Bild des Unendlichen zu sein, beschäftigte er sich besonders mit ihr. Er tat es zum Zweck besserer Erkenntnis Gottes, forderte aber auch eine exakte Wissenschaft, die sich, abgesehen von dem Urgrund, dem sie zum Bilde dient, der Erforschung des Bildes widmet. Mit besonderer Neigung und Begabung warfen sich nun die Deutschen auf das Studium der Mathematik, namentlich in ihrer Anwendung auf Astronomie und Geographie. Als Wunder des Jahrhunderts wurde Johannes Müller, nach seinem Geburtsort Königsberg bei Haßfurt Regiomontanus genannt, im Abendlande gefeiert. Er war Schüler des Georg von Peuerbach, der in Wien lebte und dessen Werk über die Planeten er herausgab. Nachdem Regiomontanus in Padua einen arabischen Astronomen erklärt und dann die Trigonometrie begründet hatte, ließ er sich in Nürnberg nieder und entfaltete dort eine großartige wissenschaftliche und praktische Tätigkeit. Er gründete eine Druckerei, in der die Werke des Altertums und Mittelalters über Mathematik und Astronomie, und eine Werkstatt, wo nach seiner Angabe Kompasse, Himmelsgloben, Karten hergestellt werden sollten und wurden. Dies war der Beitrag, den Deutschland zu den Entdeckungen der großen Seefahrer des Jahrhunderts lieferte. Durch Vorträge weckte er Interesse für seine Wissenschaft, das sich rasch zu leidenschaftlicher Anteilnahme steigerte. Die reichen Patrizier Nürnbergs förderten seine Unternehmungen, Bernhard Walther, ein Geschäftsführer bei der berühmten Firma Vöhlin und Welser, ermöglichte ihm durch seine finanzielle Hilfe die Gründung einer Sternwarte. Nach dem Tode seines Freundes setzte Walther seine Bestrebungen fort. Sowohl Peuerbach wie Regiomontanus sind jung gestorben. Der letztere starb im Jahre 1476 in Rom, wohin Sixtus IV. ihn berufen hatte, um ihn bei der Verbesserung des Julianischen Kalenders zu beraten. Drei Jahre vorher war Kopernikus geboren, dessen Werk De revolutionibus orbium celestium die Arbeit der beiden Vorläufer vollenden sollte.
Es waren anfangs keine umwertenden und umstürzenden Absichten mit diesen Arbeiten verbunden: die Kraft, die lange gerastet hatte, versuchte freudig, unermüdlich ihre Schwingen. Aber wie konservativ auch die Gesinnung und wie angemessen dem herrschenden Weltbilde auch die Leistung war, die Wissenschaft, die bescheiden nichts zu wollen schien, als zu den Quellen zurückzukehren, war doch die Macht, die den Anspruch in sich trug, die Welt umzuschaffen. Daß sie das Entartete beseitigen wollte, machte ihr den Zweifel zur Pflicht, die Reformation, deren Notwendigkeit auf allen Gebieten jeder einsah, verlangte Kritik alles Bestehenden. Da die Autoritäten, die Dekrete, das Herkommen die Menschen in ein fast unentwirrbares Netz von Übeln verstrickt hatten, suchte man einen zuverlässigen Grund in den Gesetzen zu finden, die in den Dingen selbst lägen. Als Führers bediente man sich der Vernunft und der Natur der Dinge. Die Wissenschaft löste langsam die Welt des Augenscheins, aufgenommen und aufgebaut von den Sinnen, als ein großartiges, die Menschheit umfassendes Gewölbe in ein unendliches Gegenbild des konstruierenden Verstandes auf. Sie wirkte klärend und auflösend, bis die Welt des Verstandes so übersichtlich daliegen würde, daß der Mensch sie seinen Bedürfnissen entsprechend ordentlich einrichten könnte. Sie würde alles bisher Geglaubte aufheben, und wenn es ihr richtig schiene, auch sich selbst aufheben; aber nur, um sich immer wieder neu zu setzen.
Dem Erwachen der Wissenschaft stand das Sinken der Religiosität und der Sittlichkeit gegenüber. Da es immer Sittenrichter gibt, die die Lasterhaftigkeit ihrer Mitmenschen als Ausnahmezustand ihrer Zeit betrachten, ist es schwer, den Grad der Unsittlichkeit im 15. Jahrhundert richtig zu beurteilen; aber das übereinstimmende Urteil vieler gebildeter, denkender Menschen muß doch als Beweis für einen erschreckenden Verfall gelten. Unter vielen seien nur einige Äußerungen angeführt. Um die Mitte des Jahrhunderts zählte Nikolaus von Cusa als unheilvolle Zeichen auf: die zentrifugale Tendenz, die Ehrfurchtlosigkeit der Gehorchenden, daß der Gemeinsinn der Privatgier Platz gemacht habe, kurz die Herrschaft des Antichrist. Einige Jahrzehnte später schrieb der Humanist Beatus Rhenanus: »Was gilt uns heute noch heilig, uns, den Christen, die wir zu innerer Beschämung gestehen müssen, daß unsere heidnischen Vorfahren weit besser waren als wir? Wir bringen es über uns, über jede Schandtat zu lachen, wir finden für alles, was wir heutzutage treiben, eine Rechtfertigung im Zeitgeist: er muß Unsittlichkeiten empörendster Art, er muß Trunksucht entschuldigen. Der Zeitgeist muß als Deckmantel dienen für diejenigen jungen Leute, welche als Reisläufer ein leichtsinniges Lasterleben führen, für die Unersättlichen, welche in gieriger Gewinnsucht nie genug zusammenscharren können, für die habsüchtigen Geistlichen, welche Pfründen auf Pfründen häufen und doch nie zufrieden sind.« Und in dem früher angeführten Briefe von Sebastian Brant heißt es: »Lange habe ich des Reiches Geschick beklagt; fast habe ich für dasselbe keine Tränen mehr, denn ich sehe, daß alles nach einer eisernen Notwendigkeit geschieht. Was ich vor langer Zeit über die verkehrte Ordnung in der Welt geschrieben und geweissagt habe, das ist leider eingetroffen: alles ist Zwietracht, kein Gesetz, keine Freundschaft mehr in der Welt! Alle wüten gegeneinander wie Löwen und Wölfe!«
Ritter
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