Название: "Ich habe neun Leben gelebt"
Автор: Joseph Melzer
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783864898211
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Das Jahr 1916 war das Todesjahr von Kaiser Franz Joseph, des österreichischen Monarchen, den die Juden als ihren Patron verehrten. Er war gut zu uns Juden gewesen, und natürlich war sein Tod für die Juden ein großer Verlust und ein Unglück dazu. Sein Nachfolger Karl wollte einen Separatfrieden schließen, aber der Hohenzoller, Kaiser Wilhelm, ließ dies nicht zu. Endlich kam das Kriegsende und mit ihm die Revolution in Deutschland und in Österreich. Das Kaiserreich zerfiel in seine einzelnen Nationalitäten. Ungarn wurde ein freier Staat. Galizien gehörte fortan zu Polen und wurde als polnische Provinz Kleinpolen genannt.
Wir fuhren in das neue Polen zurück, wo gerade in Lemberg und in anderen Städten Galiziens Pogrome gegen Juden stattfanden. Auch Großvater kam mit Großmutter aus seinem Zufluchtsort zurück. Ich habe nie erfahren, wo er gewesen war. Da es ihm aber an Geld nicht fehlte, munkelte man, dass er bis nach Wien geflohen sei, wo er in einem vornehmen Hotel die schlimme Zeit verbracht habe. Zurück in Kuty fanden wir alle Häuser der Juden ausgeraubt und zertrümmert. Die rabbinische Bibliothek meines Großvaters war von Vandalen zertrampelt und verwüstet worden. Die Bücher hatte man in Stücke gerissen. Die Geschäfte waren ausgeplündert. Mehr als über die Plünderung seines Geschäftes trauerte Großvater aber über den Verlust seiner Bücher. Mein Freund Manès Sperber schrieb dazu: »Die Stimmung, die im Schtetl vorherrschte, war gleichsam manisch-depressiv. Hoffnungsvolle Erwartung wechselte immer wieder blitzschnell mit Angst vor einer russischen Invasion, vor Pogromen, Hungersnöten und Epidemien ab. Nach jedem Pogrom kamen Juden über die Grenze, sie blieben eine Weile, dann zogen sie weiter. Sie strebten einem Hafen zu, sie wollten Europa für immer verlassen.«
»Für uns ist jeder Krieg ein Unglück«, sagte mein Großvater.
Mit einem Mal begriffen alle, auch wir Kinder, dass eine andere Zeit angebrochen und die alte Welt für immer verloren war. Wir verstanden aber auch, dass es keinen Sinn machte, nach der alten, verlorenen Zeit zu suchen und wandten unseren Blick nach vorne in der Hoffnung auf eine bessere Zeit. Ich fragte mich, was es mit der »Auserwähltheit« der Juden auf sich hat. Sperber schrieb darüber folgendes: »Nur die wenigsten Nichtjuden haben begriffen, dass das jüdische Leid nicht etwa trotz, sondern vor allem wegen dieser Auserwähltheit zu unserem Schicksal geworden ist. Indem Gott mit uns ein Bündnis schloss, warf er den göttlichen Ziegelstein seiner Gnade auf uns. Seitdem tragen wir die erdrückende Last seiner Gnade auf unseren Rücken wie einen Fluch.« Wenn Gott uns so sehr liebt, warum hat er uns über Jahrhunderte so sehr gequält? Ich entdeckte damals die Niedertracht der Menschen, aber auch sehr viel Liebe und Gerechtigkeit. Die Beziehung zwischen uns und der nichtjüdischen Umwelt war keineswegs einfach, dennoch brachten wir für sie viel Sympathie und Verständnis.
Juden sind es gewohnt, zu improvisieren und aus dem Chaos heraus ein neues Leben zu beginnen. Bald waren die Geschäfte wieder voller Leben, und Bauern und Juden tummelten sich wie eh und je auf dem Markt, nur dass wir jetzt plötzlich Polen waren und die deutsche Sprache nicht mehr erwünscht war. Ich war inzwischen zwölf Jahre alt geworden. Mein jüdisches Wissen aus der Knabenzeit war im Laufe der Jahre verloren gegangen. Nun galt es, das Vergessene aufzufrischen und mich weiterzubilden. Auf Betreiben meines Großvaters wurde ich zum »besten« Rebben der Stadt geschickt. Es war wieder Mechel Horner, der keinen Spitznamen hatte, sondern ehrfurchtsvoll mit seinem Familiennamen angeredet wurde. Ein Unikum unter den damaligen »Melamdim« wie man jüdische Kinderlehrer nannte. Er wohnte immer noch in einem besseren Viertel der Stadt, in der Gerichtsgasse, wo er ein geräumiges Steinhaus besaß. Bei ihm studierte ich den Talmud und die Bücher der Propheten, die von den frommen Juden meist gemieden wurden. Für die orthodoxen Juden ist nur die Thora heilig, von den Propheten halten sie nicht viel. Das wissen nur die wenigsten. Diese Lernzeit dauerte nicht länger als ein Jahr. Ein Jahr darauf hatte ich Bar-Mizwa, und ein halbes Jahr später siedelte ich zu meinem Vater um, der inzwischen in Berlin lebte.
Kuty und so viele andere Schtetl in Osteuropa haben ein Ende gefunden. Sie haben sich nach dem Ersten Weltkrieg nie wieder richtig erholt. Dann kam der Zweite Weltkrieg und mit ihm die Deutschen. Die Juden in den Schtetl haben die Deutschen freundlich empfangen, da sie aus dem Krieg davor nur gute Erinnerungen an sie hatten. Aber sie sollten sich täuschen.
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