"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer
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Название: "Ich habe neun Leben gelebt"

Автор: Joseph Melzer

Издательство: Bookwire

Жанр: Изобразительное искусство, фотография

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isbn: 9783864898211

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СКАЧАТЬ bis zu meinem siebten Lebensjahr wohnten.

      Der Schabbat begann in unserem Schtetl eigentlich schon am Freitagabend, sobald sich die ersten Sterne am Himmel zeigten. Im Winter begann er schon am Nachmittag, weil es früher dunkel wurde und die Geschäfte leer wurden. Kein Jude verließ mehr die Stadt. Es kamen aber einige nach Kuty, um hier den Schabbat zu feiern. Während ich noch im Cheder das hebräische Alphabet lernte, waren zu Hause die Vorbereitungen für den Schabbat in vollem Gange. Mutter nahm den Wassertopf vom Herd, goss Wasser in eine Blechschüssel und begann die Säuglinge, einen nach dem anderen, abzuseifen: »Man muss sauber sein am Schabbat«, sagte sie. Die anderen Kinder saßen auf einer Decke um sie herum. Danach begann Mutter, unter der Aufsicht von Großmutter, mit der Vorbereitung der Speisen. Der Duft der frischen Seife und der Kerzen mischte sich mit dem Geruch des Eintopfs. Die Gerichte wurden in der langen, niedrigen Küche zubereitet, wo es heiß und dumpfig zuging. In der abgestandenen Luft mischten sich die Düfte der fertigen Speisen, alles beherrschend der bitter-süße Geruch des Tscholent, des jüdischen Eintopfs. Der große Dichter Heinrich Heine nannte ihn »des wahren Gottes koschere Ambrosia«. Tscholent ist ein Eintopfgericht für die Mahlzeit am Schabbat. Es wird schon am Freitag vor Schabbatbeginn zum Kochen gebracht und bei geringer Hitze bis zum Samstagmittag fertig gegart. Arme, die nicht über einen angemessenen Backofen verfügten, brachten ihren Tscholent daher zum Bäcker. Wir hatten aber einen großen Backofen, und Karl, der Behelfer, der mich jeden Tag zum Cheder trug, sorgte dafür, dass der Ofen immer befeuert wurde.

      Als ich nach Hause kam, waren die Kleinsten schon gewaschen und fertig angezogen. Vater und Großvater bereiteten sich für den Gang in die Synagoge vor. Sie warteten nur noch darauf, bis ich meine Schabbat-Kleider angezogen hatte. Vater in seiner »Sonntagskleidung«, Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, und dazu eine Tasche aus Samt, in die er sein Gebetbuch und irgendeinen deutschen Klassiker hineinsteckte, den er in der Synagoge las, während alle anderen sich mit Inbrunst in ihre Gebetbücher vertieften. Großvater sah in seinem Kaftan und dem breiten Hut wie ein Gutsbesitzer aus. Im Winter trug er einen langen, schweren Mantel mit Schaffell gefüttert. Ich zog meinen blauen Samtanzug an und ein weißes Hemd mit einer dunkelblauen Krawatte. Noch auf der Treppe kämmte meine Mutter mein schwarzes Haar und verpasste mir einen Scheitel.

      Auf ein Zeichen meines Großvaters verließen wir, bis auf die Kleinsten, die noch nicht allein gehen konnten, das Haus. Von überall her kamen bärtige Juden in langen Mänteln und gingen mit eiligen Schritten durch die schmalen Gassen zum Bethaus. Selten sah man einen allein unterwegs. Kaum war jemand aus dem Haus getreten, schloss sich ihm ein anderer und diesen sodann weitere an. Kinder begleiteten sie, manche wurden noch an den Händen geführt. So ging man mit eiligen und dennoch würdevollen Schritten dem Schabbat entgegen, wünschte einander »Gut Schabbes«, und das Echo dieser Worte hallte durch die kalte Luft wie ein Gruß aus einer anderen Welt.

      Manchmal verirrte sich ein großer, magerer Goi in die Gasse. Sobald er aber die vielen Juden erblickte, stolperte er eilig davon und versuchte, das jüdische Viertel möglichst unauffällig zu verlassen. Die Kinder liefen ihm hinterher und riefen laut »Scheigez, Scheigez«.

      Die Gasse führte um den Hügel herum zur Synagoge und zur Mikwa. Aus drei verschiedenen Gassen strömten die Juden vor dem Bethaus zusammen und drängten sich durch die offene Tür, bevor sie den Betraum betraten. In der Mitte der Ostwand befand sich die heilige Lade, wo die Thorarollen aufbewahrt wurden. Davor stand ein Holzpult für den Vorbeter und die, die später einzeln zum Vorbeten aufgerufen werden sollten. Rundherum Tische und Bänke, die im Lauf der Zeit tiefschwarz geworden waren. Die Versammlung wurde kontinuierlich größer. Am Ofen stand in der Regel eine Gruppe von Männern mit langen, weißen Bärten. Alle riefen sich gegenseitig »Gut Schabbes, gut Schabbes.« zu. Der Raum war erfüllt von lautem Gemurmel und unterdrückter Heiterkeit. Die Kinder liefen zwischen den Bänken hin und her und kreischten manchmal laut. Erst als der Rabbiner hereinkam und sich hinter dem Holzpult würdevoll aufbaute, wurde es auf einen Schlag still, und selbst die Kinder verstummten neben ihren Vätern. Alle holten ihre Gebetbücher heraus und fingen an, in einem merkwürdigen Singsang, in einer uns Kindern noch unverständlichen Sprache zu beten. Der Vorbeter sang mit einer klaren, lauten und tiefen Stimme, und sein Oberkörper wiegte sich unentwegt vor und zurück, was die Konzentration beim Beten fördern soll. Währenddessen holte mein Vater seinen Heine oder Schiller aus der Tasche und las ungestört in seinen geliebten deutschen Klassikern.

      Die Gebete dauerten nicht lange, denn auf alle wartete zu Hause eine leckere, warme Mahlzeit. Als schließlich das abschließende Amen gesprochen wurde, waren alle erleichtert und froh. Man beeilte sich nach Hause zu kommen, wo bereits das warme Essen wartete.

      Der Rest der Familie einschließlich der Ehefrauen ging am Vorabend des Schabbats nicht in die Synagoge. Das taten sie dann mit umso größerer Begeisterung am Schabbat selbst, um auf der Frauenempore Nachbarinnen, Freundinnen und Familienangehörige zu treffen und sich über die wichtigen und unwichtigen Ereignisse der Woche auszutauschen.

      Wir Kinder traten als Erste ins Haus, nach uns mein Vater und als Letzter Großvater.

      »Gut Schabbes« rief er und verbeugte sich feierlich.

      »Gut Schabbes, Herr des Hauses«, antworteten Großmutter und Mutter gleichzeitig. Großvater legte das Gebetbuch auf den Tisch und ging ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Großmutter trat an den Tisch und zündete gemäß der jüdischen Tradition die Schabbat-Kerzen an. Sie legte das abgebrannte Streichholz auf das Tablett, hob die Hände und drehte sich dreimal hin und her. Dann legte sie die Hände vor das Gesicht und sagte, wie vorgeschrieben, den Segensspruch: »… und Du hast uns befohlen, Lichter anzuzünden zu Ehren des Schabbats.« Langsam nahm sie die Hände vom Gesicht.

      Großvater, aus dem Bad zurückgekehrt, legte seinen Tallit, das Gebettuch, um die Schulter und begann mit der Segnung des Brotes. Unmittelbar danach fuhr er mit dem Lob der tüchtigen Hausfrau fort, so wie es das Ritual verlangt. Dann beugte er sich über den Becher, um zu prüfen, ob genug Wein für den Kiddusch vorhanden war. Er begann zu beten: »Es wurde Abend, und es wurde Morgen: Der sechste Tag. So wurden vollendet Himmel und Erde und ihr ganzes Gefüge. Am sechsten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig: denn an ihm ruhte Gott.« Er nahm das Deckchen von den Broten und breitete die Hände über sie: »Gelobt sei der Name des Herrn der Welt, der hervorbringt Brot aus der Erde.«

      Er hob den Becher an die Lippen und trank ihn halb leer, bevor er ihn Großmutter reichte. Diese senkte den Kopf und trank einen Schluck. Dann reichte sie den Becher weiter.

      »Lechajim, auf das Leben«, rief Großvater.

      »Lechajim«, antworteten wir alle im Chor.

      Großmutter stellte einen großen Teller mit Hühnersuppe auf den Tisch und verteilte die Suppe in alle Teller. Zuerst natürlich an Großvater. Als sie fertig war, sagte Großvater mit lauter Stimme »Guten Appetit«, und Großmutter sagte: »Lasst es euch schmecken.«

      Alle schlürften ihre Suppe, und der aufsteigende Dampf zog wie eine Nebelschwade durch den Raum. Nachdem wir fertig waren, brachte Großmutter einen Teller Fleisch mit gekochten Kartoffeln herein. Nur am Vorabend des Schabbats wurde bei uns Fleisch gegessen. Bei Armen, Nebbichen, gab es dagegen Heringe.

      Nach dem Fleischverzehr war die Mahlzeit zu Ende. Die Kinder wurden ins Bett geschickt, und Großvater nahm vom Regal ein Buch und begann still für sich zu lesen. Nach einiger Zeit stand auch er auf und ging schlafen.

      Am Schabbatmorgen standen alle früh auf, um gemeinsam ins Bethaus zu gehen. Zunächst wurden die Kinder gewaschen, aber diesmal, weil am Schabbat nicht erlaubt, ohne Seife. Zum Frühstück gab es Rosinenkuchen, den Großmutter tags zuvor gebacken hatte. Großvater wünschte allen einen guten Schabbat und las СКАЧАТЬ