... und eine Prise Wahnsinn. Alexander Herrmann
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Название: ... und eine Prise Wahnsinn

Автор: Alexander Herrmann

Издательство: Bookwire

Жанр: Изобразительное искусство, фотография

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isbn: 9783864707032

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СКАЧАТЬ aus den Versandkatalogen, die bei uns immer irgendwo in einer Büroschublade zu finden waren, ein halbes Dutzend hochwertige Wurfsterne, die ich, von den anderen unbemerkt, direkt beim Briefträger per Nachnahme an der Rezeption bezahlte. Ich kaufte mir in meiner Gefühlsmischung aus Niedergeschlagenheit und Trotz lauter solches Zeug, das mir meine Eltern niemals erlaubt hätten und mich in meiner momentanen und selbst gewählten Rolle als einsamer Kämpfer bestärkte. Da ich mit den Sternen natürlich nicht auf dem Hotelgelände das Werfen üben konnte und das Messer gut in meinem Zimmer versteckte, bekamen weder die Großeltern noch Onkel und Tante etwas von alledem mit, und das war auch besser so.

      Zu der Zeit konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, quasi mein gesamtes Leben wie schon mein Vater oder meine Oma in diesem Hotel zu verbringen. Stattdessen wollte ich jetzt Tierarzt werden. Diesen Plan hatte ich schon zu Papas Lebzeiten gehabt. Ich meinte das durchaus ernst, denn ich mochte Tiere sehr, aber er tat dies immer als kindliche Spinnerei ab. Dabei versuchte ich mit großer Ernsthaftigkeit, in dieser Hinsicht Anamnesen aufzunehmen, und als ich bei unserem Eyk einmal einen heftigen Hundeschnupfen diagnostizierte, behandelte ich diesen sogleich mit Eukalyptussalbe. Nach wenigen Sekunden taten die ätherischen Öle das, was sie auf einer sensiblen Hundeschnauze besser nicht tun sollten, und der arme Eyk zerlegte in seiner Hilflosigkeit fast das gesamte Zimmer, bevor ich ihn in die Badewanne bugsieren konnte, um das Zeug wieder von ihm abzuwaschen. Danach fiel ich in seiner Gunst vorübergehend etwas ab.

      „Mein Sohn, du hast sicher mehr Talent, Schnitzel zu panieren, als Tiere zu behandeln“, hatte mein Vater nach dem Vorfall gesagt, obwohl ich noch nie ein Schnitzel paniert hatte. Aber gerade war das sehr, sehr weit weg.

      Zu meinem eigenen Erstaunen jedoch gelang Herrn Opel innerhalb weniger Monate ein kleines Wunder: Er brachte mich zurück in die Spur. Durch viel Verständnis für meine private Situation wurden meine Noten langsam wieder besser. Und nachdem mein Onkel und mein Großvater mich mit dem Betrieb in diesen Wochen weitgehend in Ruhe gelassen und auch schulisch keinerlei Druck auf mich ausgeübt hatten, begann ich mich langsam wieder mit dem Gedanken anzufreunden, irgendwann selbst am Herd zu stehen und doch keine Karriere als Veterinär zu beginnen. Schließlich konnte das Haus nichts für den Unfall, und das, was mein Vater und seine Kollegen dort unten Tag für Tag unter Hochdruck zustande brachten, hatte mich immer schon fasziniert. Rund um Weihnachten und Silvester arbeitete ich zum ersten Mal richtig in der Küche mit. Gut, es war anfangs bloß die Spülküche, und nach drei Wochen, in denen ich im Akkord die Speisereste von den Tellern kratzte und über mehrere Stunden am Stück mit aufgequollener Haut im heißen Wasserdampf stand, war ich über jede Kritik erhaben. Ich wollte nun ein Teil des Ganzen sein, und der Anfang dafür war gemacht.

      Nach einigen Monaten intensiver Nachhilfe hatte es Herr Opel hinbekommen, dass ich nach der vierten Klasse auf die Realschule wechseln konnte. Die Jahre dort verliefen eigentlich total unspektakulär. Ich war kein besonders guter Schüler, aber ich geriet dank der weiterhin sehr geduldigen Begleitung durch den guten Gerhard Opel nie mehr in akute Abstiegsgefahr. Parallel auf dem Weg zur Mittleren Reife half ich derweil immer öfter bei Jürgen Beyer und seiner Mannschaft mit. Ich war eine willkommene Verstärkung, da ich zum einen nichts kostete und zum anderen alles, wirklich alles machte, was mir aufgetragen wurde. Ich schälte Kartoffeln, bis ich beinahe unter einem Berg von Schalen begraben war. Ich hackte Zwiebeln, bis ich nicht mal mehr auf einen halben Meter Entfernung sehen konnte. Und ich rührte, stampfte, klopfte oder knetete, bis mir die Arme wehtaten.

      Danach lernte ich die ersten filigraneren Handgriffe: Tomaten häuten, Julienne schneiden, Fleisch parieren und solche Dinge. Später ließen mich die Köche an den verschiedenen Posten schon mal mit abschmecken, und ich durfte mich mit dem Segen von Jürgen an kleineren eigenen Kochexperimenten versuchen. Die gingen zwar nicht gleich heraus an die Tische, aber anscheinend bemerkten die Erwachsenen um mich herum, dass ich mich zumindest nicht ganz dämlich anstellte. Nach ein, zwei Jahren, in denen ich alle Stationen unserer Küche ausprobiert und gewissermaßen eine Grundausbildung im Schnelldurchlauf absolviert hatte, durfte ich das erste Mal mit anrichten – und zwar die „echten“ Speisen, die dann auch tatsächlich draußen serviert wurden.

      Genau dafür besaß ich offenbar ein Naturtalent. Es machte mir einen riesigen Spaß, die Gerichte so zu drapieren, dass sie nach etwas Besonderem aussahen. Das konnte ein einfaches, blanchiertes Wirsingblatt sein, das am Rand eines kräftigen Fleischstücks als frischer, farblicher Akzent mit auf dem Teller lag. Ein duftender Rosmarinstängel, der passend zum saftigen Lammbraten senkrecht in einem kunstvollen Klecks Kartoffelpüree steckte. Oder ein geschmeidiger Soßenspiegel, der sich schwungvoll um das Hauptgericht herumzog, anstatt es komplett zu ertränken. Die Einzige, die meine – wie ich fand, künstlerisch recht anspruchsvollen – Arbeiten etwas kritischer betrachtete, war meine Oma. Sie war zwar selbst immer eine elegante Erscheinung. Aber sie befürchtete, unsere Gäste könnten sich durch das ungewohnte Aussehen der Speisen abgeschreckt fühlen – immerhin sahen die Forelle, der Schweinerücken oder das Rinderfilet in den vergangenen 30 Jahren ihren Worten zufolge immer recht ähnlich aus. Dass allerdings genau das Gegenteil der Fall war, enthielt sie mir sicherheitshalber vor. Sie lobte mich nur, wenn es gar nicht mehr anders ging, hatte erstaunlicherweise aber auf der anderen Seite eine große Angst davor, dass ich das Posthotel verlassen, meine autodidaktische Kampfausbildung zum Beruf machen und mich bei der Bundeswehr als Zeitsoldat verpflichten würde.

      „Bub, du gehst doch nicht wirklich zum Barras und wirst Einzelkämpfer wie dieser Rambo?“, fragte sie mich immer wieder, und ich ließ sie zwei Jahre in dem Glauben.

      Als ich gerade 16 geworden war, hatte ich eine halbwegs passable Mittlere Reife hingelegt und war mit der Schule fertig. Nur die Pubertät und die fehlende erzieherische Aufsicht eines Vaters und einer Mutter holten mich immer mal wieder ein. Onkel Werner und Tante Melitta kümmerten sich zwar weiterhin rührend um mich, allerdings erzogen sie mich, abgesehen von der enormen beruflichen Belastung, die sie hatten, angesichts der Umstände mit einer ganz anderen Strenge, als sie meine Eltern an den Tag hätten legen können. Ich genoss also viele Freiheiten. Und so fanden sich meine Kumpels und ich gelegentlich während der Nachmittagsruhe in unserer Hotelbar ein und würfelten so lange um Asbach-Cola, bis wir uns allesamt in einem nicht mehr besonders vorzeigbaren Zustand befanden und uns besser verkrümelten, bevor uns jemand vom Haus antraf oder die Gäste wiederkamen.

      Auch mein Trinkgeld investierte ich zu dieser Zeit gerne in Feieraktivitäten, beispielsweise in die in Oberfranken sehr populäre „Gaaßmoss“, auf Hochdeutsch: „Ziegenmaßkrug“, in der in einem Literkrug dunkles Bier, Cola und wahlweise Kirschlikör oder Cognac auf schmackhafte und nachhaltige Weise zusammenfinden. Manchmal wusste ich nicht, wie ich es von der Kerwa oder der Sonnwendfeier nach Hause geschafft hatte, aber am nächsten Morgen stand ich, wie von Jürgen gefordert, trotz der einen oder anderen „Gaaßmoss“ zu viel immer meinen Mann und half aus, wo ich eben eingeplant war – und darauf kam es an.

      „Alexander, du musst mal hier raus“, sagte mein Opa kurz nach dem Abschluss zu mir. „Ich hab da auch schon eine Idee.“

      Inzwischen war ich mir wieder halbwegs sicher, dass sich meine berufliche Zukunft zwischen Herd und Pass befinden würde. Zu sehr hatte mir das imponiert, was ich in den vergangenen Jahren bei Jürgen Beyer und den anderen Kollegen sehen und ausprobieren konnte. Außerdem gehörte das Posthotel seit immerhin vier Generationen meiner Familie: Meine Ururgroßmutter hatte das alte Bauernhaus einst zu einer Wirtsstube umbauen lassen, und mein visionärer Urgroßvater machte daraus eine Herberge, nachdem er in London und Monte Carlo gesehen hatte, wie moderne Hotels Ende des 19. Jahrhunderts funktionierten. Dann kamen Opa und Oma, bauten den Betrieb weiter aus und veredelten die Gastronomie. Da durch den Unfall meiner Eltern allerdings eine komplette Generation ausgefallen war und sowohl meine Großeltern als auch mein Onkel und meine Tante das Haus nicht ewig weiterführen konnten, war klar, dass diese Tradition in nicht allzu ferner Zukunft aussterben würde. Es sei denn, ich würde mich eben doch gegen den Bund oder die Karriere als Veterinär und für eine Ausbildung zum Koch entscheiden. Wenn man es jedoch genau betrachtete, wäre ich ganz schön doof gewesen, etwas anderes zu machen. СКАЧАТЬ