... und eine Prise Wahnsinn. Alexander Herrmann
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Название: ... und eine Prise Wahnsinn

Автор: Alexander Herrmann

Издательство: Bookwire

Жанр: Изобразительное искусство, фотография

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isbn: 9783864707032

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СКАЧАТЬ sagte sie lapidar und freute sich, wieder einmal alle ausgetrickst zu haben.

      Mit ihr als Chefin konnte es also auf Dauer eher nicht gut gehen. Vor allem meinen Opa aber hatte der Verlust seines ältesten Sohns schwerer getroffen, als er sich eingestehen wollte. Er bekam Probleme mit dem Herzen und war nun auch schon in einem Alter, in dem sich andere längst zurückzogen. Es zeigte sich, dass einige langjährige Gäste plötzlich ausblieben: entweder, weil sie selbst nicht wussten, wie sie mit der Situation umgehen sollten, oder – und das war wahrscheinlich der häufigere Grund –, weil sie befürchteten, dass der Service und die Küche ohne Mama und Papa nicht mehr so gut funktionieren würden, auch wenn das keiner offen aussprach. Die hohe Bindung zu unseren Stammgästen, die beinahe freundschaftlichen Beziehungen und die Vertrautheit, die jahrelang die Grundlage des Erfolgs gewesen waren, drohten dem Posthotel jetzt auf die Füße zu fallen.

      Deshalb fassten meine Großeltern einen Plan. Mein Onkel und meine Tante, die sich damals gerade erst kennengelernt hatten, sollten in Wirsberg einsteigen – und zwar so schnell wie möglich. Melitta brachte immerhin Gastronomiekenntnisse mit, sie hatte früher in einem Hotel im nahen Weißenstadt gearbeitet, wo sie aufgewachsen war. Für Onkel Werner jedoch, den jüngeren Bruder meines Vaters, war die Leitung des Hauses eigentlich undenkbar. Zwar hatte er seit einiger Zeit wieder bei uns Quartier bezogen, nachdem er eine Zeit lang mit seinem besten Freund zusammen in Afrika gelebt und dort Geschäfte gemacht hatte. Werner war aber kein Wirt und kein Koch, sondern gelernter Bankkaufmann und verkaufte außerdem Versicherungen. Unser Dorf war ihm viel zu klein. „Werner, es hilft nichts. Du musst hier ran“, sagte mein Opa. „Sonst geht das hier alles den Bach runter.“

      Mein Onkel überlegte kurz und sagte schließlich zu. Eigentlich hatte er gar keine andere Wahl, denn ihm war die Familie wichtiger als das persönliche Wohlergehen. Innerhalb weniger Wochen machte er sich mit der Materie vertraut und übernahm immer mehr Aufgaben meines Vaters – mit Ausnahme der Küche, die nun Jürgen Beyer in seinem Sinne fortführte. Auch Jürgen wurde für mich viel mehr als einer unserer Mitarbeiter: Er brachte mir geduldig das Kartenspielen bei und später die ersten Handgriffe am Herd, und er versorgte mich mit Lebensweisheiten wie jener, dass derjenige, der saufen kann, am nächsten Tag auch zum Arbeiten taugt, was vor allem zu Zeiten der Kerwa, also der Kirmes, wichtig war. Abgesehen davon, dass Jürgen Beyer ein toller Mensch war und prima kochen konnte, hatte er einfach recht. Und Melitta kümmerte sich nun um die Dinge, die zuvor meine Mutter betreut hatte, wofür ich heute noch unglaublich dankbar bin.

      Nach einem knappen halben Jahr schien es, als seien die anderen aus dem Gröbsten raus. Die Tränen wurden immer weniger, die ersten Gäste kamen zurück, und es begann im guten alten Posthotel wieder ein Stück Normalität. Erst in diesem Moment fing der Verlust auch bei mir an, langsam Wirkung zu zeigen. Meine Leistungen in der Schule ließen stark nach, und ich konnte derartige Probleme nicht mehr wie bisher mit meiner Mutter besprechen. Meine Oma war in Sachen Einfühlsamkeit und Verständnis ein ganz anderer Mensch als meine Mama, die noch dazu gelernte Lehrerin gewesen war und nur für das Hotel – beziehungsweise meinen Vater – ihren eigentlichen Beruf aufgegeben hatte. Mit meiner Großmutter dagegen mochte ich keine Hausaufgaben machen oder über schlechte Prüfungsnoten sprechen. Ihre Welt war das Haus, in dem sie praktisch ihr gesamtes Leben verbracht hatte. Sie wohnte mit Opa zwar nebenan, aber sie war sogar hier drinnen geboren worden: am 27. Januar 1915 im heutigen Zimmer 108 – am selben Tag, als Kaiser Wilhelm II. seinen 56. Geburtstag feierte. Auch deshalb interessierte sie sich nicht allzu sehr für die Geschehnisse draußen, und natürlich hatte sie ihre eigenen Probleme. Und wenn nicht, dann suchte sie sich manchmal welche. Es konnte vorkommen, dass an einem Sonntagmittag 30 Gäste die Sauerbratensoße über den grünen Klee gelobt hatten. Wenn sich aber ein einzelner überkritischer Dauernörgler, dem eh rein gar nichts passte, darüber beschwerte, sie sei nicht so sämig wie gewohnt ausgefallen, ging Oma in die Küche und tat kund:

      „Also, die Soße heute war den Leuten viel zu dünn.“

      So etwas zeigte bei den Mitarbeitern selbstverständlich Wirkung und führte nicht gerade zu einem besonders lockeren Betriebsklima. Mein Vater, der das immer abgepuffert hatte, war nicht mehr da, und Onkel Werner musste sich erst in den Ablauf hineinfuchsen. Vielleicht war Großmutters bisweilen schroffe Art generationenbedingt, denn sie hatte nicht nur zwei Weltkriege er- und überlebt. Sie durchlitt in den Jahren davor, dazwischen und vor allem nach 1945 Entbehrungen, von denen sich jemand wie ich glücklicherweise nicht im Entferntesten vorstellen konnte, wie schlimm sie gewesen sein mussten. Meine Urgroßeltern schickten sie schon als Kind in eine Schwesternschule nach Neuendettelsau, wo sie nach allen Regeln der Kirche gedrillt wurde. Sie musste sogar Französisch lernen – was dazu führte, dass sie auch mit über 100 noch munter mit französischsprachigen Gästen parlierte. Ihr ursprünglicher Berufswunsch war, Ärztin zu werden, doch das wurde ihr von ihrer Mutter energisch verwehrt. Ihr Bräutigam, Omas große Liebe, fiel während des Russlandfeldzugs. Später im Krieg diente unser Hotel, das damals eine kleine Bierwirtschaft war, kurzzeitig als Lazarett für verwundete Offiziere. Nach Kriegsende heiratete sie dann meinen Opa, der in Würzburg eigentlich Chemiker gelernt hatte und in Wirsberg zunächst eine Gewürzmühle besaß. Karl war ein enger Freund ihres Verlobten gewesen und schrieb ihr rührende Kondolenzbriefe, durch die sie sich näherkamen.

      Vermutlich war zunächst weniger die pure Romantik als der Pragmatismus Auslöser für ihre Beziehung. Nach der Geburt ihrer beiden Söhne verloren die beiden ihre Tochter Petra im Alter von nur drei Jahren aufgrund einer Leukämieerkrankung. Herta hatte es also sicher nicht immer leicht gehabt. Trotzdem war mein Großvater zeit seines Lebens ein ganz anderer Typ als sie: gütig, ausgeglichen und sanft, immer mit einem netten Spruch auf den Lippen und kaum aus der Ruhe zu bringen. Aber er konnte sich gegen seine Frau nicht durchsetzen, und so ergriff er eines späteren Tages zumindest in beruflicher Hinsicht die Flucht und übernahm ein Hotel in Bad Alexandersbad.

      Mir ging es rund um meinen zehnten Geburtstag immer mieser. Abgesehen davon, dass dieser Tag eh kein Anlass mehr zum Feiern sein konnte, gerade einmal 48 Stunden vor dem Jahrestag des Unglücks, verlor ich auch ansonsten etwas den Halt. Ich igelte mich ein, redete mit kaum jemandem, und in der Schule sackte ich regelrecht ab. Ich war gerade in die vierte Klasse gekommen und geriet schon nach kurzer Zeit erheblich ins Schwimmen. Am Jahresende in eine weiterführende Schule zu gelangen erschien zu diesem Zeitpunkt illusorisch. Das aber war logischerweise die Grundvoraussetzung, um in ein paar Jahren eine Lehre beginnen zu können. Nur mit Volksschule kam ich sicher nirgendwo unter, Hotelierskind mit Udo-Jürgens-Autogramm hin oder her.

      „Alexander, so geht’s nicht weiter“, sagte mein Opa. „Du musst wieder in die Spur kommen. Aber ich weiß schon, wie wir das anstellen. Ich hab da jemanden für dich, der dir weiterhelfen kann.“

      Er marschierte zu seinem guten Freund Gerhard Opel, dem liebevoll-strengen Schulleiter aus dem Nachbarort, der mich fortan als wahrscheinlich überqualifiziertester Nachhilfelehrer aller Zeiten unter seine Fittiche nahm. Herr Opel war nicht nur ein Universalgenie, das alle Fächer blind beherrschte. Er verstand es außerdem, die Zusammenhänge so zu erklären, dass sie selbst ein gerade ziemlich lernunwilliges Kind verstand. Ich fand jedenfalls rasch einen Draht zu ihm und setzte mich, wenn auch anfangs missmutig, auf den Hintern und fing an, zu pauken. Es konnte ja nicht angehen, in der vierten Klasse sitzenzubleiben. Auch Werner und Melitta übernahmen bei mir mehr und mehr die Elternrolle und bemühten sich nach Kräften, meine Trauer und ihre Begleiterscheinungen abzupuffern.

      Zwischenzeitlich hatten wieder die Festspiele stattgefunden und wohl auch aufgrund des Mitleids unserer Gäste staubte ich in diesem Jahr besonders ab. Drei Wochen lang trug ich jeden Koffer, den ich in die Finger bekommen konnte, was mir eine Einnahme von satten 800 DM einbrachte – ein unfassbares Vermögen für ein Kind. Von einem Teil der Kohle, die durch das obligatorische Geburtstagsgeld sogar noch aufgestockt wurde, kaufte ich mir unter anderem ein sündhaft teures, aber unglaublich cooles und vor allem für Zehnjährige absolut verbotenes „Überlebensmesser“, praktischerweise direkt vor Ort in der „Süddeutschen Messerfabrik“ in Gefrees, wo man auch Dolche, Hirschfänger, Bajonette, СКАЧАТЬ