Große Werke der Literatur XV. Группа авторов
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СКАЧАТЬ innehat, weil vrouwe mit ‚adelige Dame‘ zu übersetzen ist. Ansonsten reden sich die beiden Adeligen mit friedel beziehungsweise vriundin vertraut an. friedel bedeutet ‚Geliebter‘ und ist dasselbe Kosewort, das auch Kriemhild für Siegfried im Nibelungenlied benutzt.4 Die beiden Liebenden im Tagelied Dietmars werden dabei durch den Gesang eines kleinen Vogels geweckt. Dies entspricht natürlich der allzu bekannten weltliterarischen Frage am Morgen: War es die Nachtigall oder die Lerche? Wir befinden uns hier allerdings nicht im Verona Romeos und Julias, sondern nördlich der Alpen im deutschen Sprachraum. Und dieses mittelhochdeutsche Tagelied des Dietmar von Aist ist überhaupt der erste Vertreter seiner Gattung. Deshalb firmiert in einigen Handbüchern Dietmar von Aist als Erfinder des deutschen Tageliedes.5 Romanische Vorbilder werden bei Dietmar generell nicht angenommen, obwohl die Tageliedsituation natürlich in ganz Europa besungen wurde.

      Was wissen wir über diesen Dichter des ersten deutschen Tagelieds? Es ist nicht viel, denn die Quellen zur Biographie hochmittelalterlicher Dichter fließen bekanntlich spärlich. Erfreulicherweise gibt es sogar zwei mittelalterliche Miniaturen von Dietmar.

      Codex Manesse6 stellt den Dichter im Reisemantel und mit Reisehut als fahrenden Kaufmann vor, der so zu seiner geliebten Dame vordringen kann, die durch das Gebände auf ihrem Kopf als verheiratete Frau zu erkennen ist. Überflüssig zu sagen, dass die aus einer Burg heraustretende Dame nicht mit Dietmar oder präziser dem Handlungsreisenden verheiratet ist. Zu sehen ist sie als eine durch teure Kleidung anhand des üppigen Faltenwurfes gekennzeichnete Adelige, die auf dem Arm ein Schoßhündchen hält, was definitiv den reichen Damen vorbehalten war. Der als Kaufmann verkleidete Dietmar führt in der Satteltasche seines Esels Spindeln mit sich. Auf einer Stange hängen aufwendig gefertigte Taschen und ebenso damals modische schmale Gürtel. Zeitgleich zum Codex Manesse aus Zürich gab es in Erfurt solche Gürtel mit einem mittelhochdeutschen Minnegedicht darauf.

      Konkret hat man in Erfurt bei Ausgrabungen 79 Gürtelapplikationen7 mit mittelhochdeutschen Silben (in der Regel zwei bis drei Vokale und Konsonanten) gefunden. In der richtigen Reihenfolge ergeben die mittelhochdeutschen Silben oder Buchstaben ein Minnegedicht. In England gab es beispielsweise Minnegürtel mit der Inschrift amor vincit omnia, das heißt ‚die Liebe überwindet alles‘. Charakteristisch für diese schmalen Gürtel war ihre luxuriöse Gestalt, was Material und Verarbeitung anbelangte, sowie der ‚Sitz im Leben‘ Minne und Hochzeiten. Für Erfurt lässt sich die Besitzgeschichte im jüdischen Stadtbürgertum vor 13508 feststellen, wobei das Minnegedicht auf dem Gürtel mit dem ungefähr zeitgleichen und ebenfalls mittelhochdeutschen Epos Ducus Horant korreliert, das in hebräischen Buchstaben aufgezeichnet wurde.9 Hinzu kommt, dass der Erfurter Minnegürtel in seiner Entstehungszeit wohl nicht allzu weit vom Codex Manesse entfernt ist, wobei er überdies in das gleiche urbane Milieu führt, denn vom Lebensgefühl her dürften sich die oberschichtigen Erfurter Juden nur wenig von dem Patriziergeschlecht der Manesse in Zürich unterschieden haben. Der kleine Exkurs soll nur zeigen, dass die vom Händler Dietmar angepriesenen Waren, insbesondere die Gürtel, durchaus in einem erotischen Kontext zu verstehen sind.10 Die Situation, mit dem als Kaufmann verkleideten Dietmar, entspringt sogar einer sogenannten Minnelist, wie sie ähnlich im Heldenepos ‚Kudrun‘ geschildert wird, bei welcher ein als Händler getarnter Werber ein Verkaufsgespräch dafür nutzt, um in die Burg der Dame vorzudringen.11

      Eine denkbare kunsthistorische Deutung der Miniatur zeigt verschiedene verschlüsselte Hinweise auf Dietmar im Bild. Der Dichter selbst ist nämlich nicht sofort in der Miniatur als Dietmar identifizierbar, wobei hier jedoch metaphorisch gedacht werden muss. Dietmar heißt übersetzt einerseits ‚berühmt beim Volk‘. Denkbar wäre aber auch quasi als Volksetymologie ‚Volkspferd‘, konkret der Esel, auf den Dietmar mit seiner linken Hand zeigt. Die Stange hingegen deutet auf Dietmars Nachnamen, hier ‚Ast‘, hin, was auch im Codex Manesse im Titulus so steht. Das Wappen und die Helmzier mit einem Einhorn entspringen dagegen wohl der Fantasie des Grundstockmalers im Codex Manesse, da es Familienwappen erst ab dem 13. Jahrhundert gab und Dietmar vermutlich noch im 12. Jahrhundert gestorben ist und keine Nachkommen hinterließ.12 Ebenso gilt der Hund auf dem Arm der Dame als Symbol der Todsünde, der Luxuria, der Lasterhaftigkeit und deutet damit auf die unangemessene Situation zwischen Dietmar und der verheirateten, adeligen Dame hin.13 Wie im Tagelied liegt auch hier eine Ehebruchssituation vor.

      Von diesem Bildtypus gibt es noch einen zweiten Vertreter für Dietmar:

      Hier zeigt sich auf den ersten Blick, dass wir es mit einem verkleinerten Ausschnitt der Prachtminiatur des Codex Manesse zu tun haben. Die Stuttgarter oder Weingartner Liederhandschrift14 beinhaltet die Szene nur unvollständig und ohne die Minnedame. Der Eseltreiber Dietmar bleibt so seltsam unmotiviert. Seit längerem wird die Verwandtschaft der Bilder so erklärt, dass sie auf eine gemeinsame, freilich nur postulierte Vorstufe zurückgehen.15 Für beide Bilder gilt aber, dass sie durchaus keine authentischen Porträts darstellen. Denn in der Buchmalerei gibt es dergleichen erst viel später. Es handelt sich sowohl beim Codex Manesse als auch bei der Stuttgarter Liederhandschrift um die Fantasieprodukte mittelalterlicher Miniatoren. Die Bilder sind amüsant, aber biographisch wertlos. Man muss deshalb nach anderen Quellen fahnden, wenn man etwas über die Dichterbiographie wissen will. Zum Glück gibt es eine Fülle von Urkunden aus dem heutigen Österreich, die einen Dietmar von Aist als Adeligen erwähnen. Beispielsweise taucht Dietmar von Aist in einer Urkunde, die am 22. April 1161 in Wien durch Herzog Heinrich II. von Österreich ausgestellt wurde, in der Zeugenreihe unter den Adeligen auf:

      Testibus adhibitis de ordine nobilium: Engelberto comite de Gorz […] Tiedmaro de Agist.16

      Die urkundlichen Zeugen ergeben in der Summe einen österreichischen Adeligen, der um 1170 kinderlos starb. Über den Dichter freilich erfährt man in diesen Urkunden naturgemäß nichts, denn die Urkunden dokumentieren nur Rechtsgeschäfte. Die Herkunftsbezeichnung Agist gibt es auch kontrahiert als Aist und Eist. So heißt auch ein Fluss in Österreich. Neben Aist als Herkunftsnamen überliefern die Urkunden darüber hinaus Agasta und Agist. Jedenfalls ist Dietmar urkundlich und herkunftsmäßig als österreichischer Adeliger im 12. Jahrhundert nachgewiesen. Nach 1170 wird er nicht mehr erwähnt. Das genaue Todesjahr ist unbekannt. Lediglich der Todestag, nämlich der 31. Dezember, ist in den Nekrologen des Klosters Aldersbach zu finden, dem Dietmar seinen Besitz vermachte, was darauf schließen lässt, dass er ohne männlichen Erben starb.17

      Dagegen berichtet uns ein späterer Dichterkollege, nämlich Heinrich von dem Türlin, um 1230 in seinem Artusroman ‚Diu Crône‘ folgendes:

      „Och muoz ich klagen den von Eist,

      Den guoten Dietmâren,

      Und die anderen die dô wâren

      Ir sûl unde ir brücke:

      Heinrîch von Rücke,

      Und von Hûsen Friderîch,

      Von Guotenburg Uolrîch,

      Und der reine Hûc von Salza.“18

      Dietmar von Aist befindet sich hier in guter Gesellschaft berühmter und wohl adeliger Minnesänger, wie der Schwabe Heinrich von Rugge. Freilich wird Dietmar hier schon als verstorben genannt. Die Berühmtheit beruht wohl auf einem gewissen Erfindungsreichtum.

      So gilt Dietmar von Aist nach den gängigen Literaturgeschichten im deutschsprachigen Raum als Erfinder des Tageslieds und des Natureingangs.19 Das heißt, ein Minnelied beginnt mit der Betrachtung über die Jahreszeit, die gleichzeitig als Einleitung СКАЧАТЬ