Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Ingram
Жанр: Контркультура
isbn: 9789176377444
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In ihm ist der Verwandtschaft des barocken Dramas mit kirchlich-mittelalterlichen zu gedenken, wie sie sich im Passionscharakter zeigt. Doch hat sich die Verweisung vom Verdacht müßigen Analogisierens, das die Stilanalyse nicht fördert, sondern verdunkelt, angesichts der Aperçus einer Literatur, die unter Herrschaft der Einfühlung steht, zu reinigen. In diesem Sinne wäre zu bemerken, die Darstellung der mittelalterlichen Elemente im Drama des Barock und seiner Theorie sei hier zu lesen als ein Prolegomenon zu weitern Auseinandersetzungen von mittelalterlicher und barocker Geisteswelt, wie sie in anderem Zusammenhang begegnen werden. Daß mittelalterliche Theorien im Zeitalter der Religionskriege wieder aufleben,396 daß in »Staat und Wirtschaft, in Kunst und Wissenschaft«397 vorerst noch das Mittelalter herrschend blieb, daß seine Oberwindung, ja Benennung im Lauf des XVII. Jahrhunderts erst erfolgt,398 das alles ist längst ausgesprochen worden. Wendet der Blick gewissen Einzelheiten sich zu, so überrascht die Fülle der Belege. Selbst eine rein statistische Kompilation aus der Poetik der Epoche kommt zum Schluß, der Kern der Tragödiendefinitionen sei »genau derselbe, wie in den grammatikalischen und lexikalischen Werken des Mittelalters«.399 Und was besagt es gegen die schlagende Verwandtschaft jener Opitzschen Definition mit der kurrenten mittelalterlichen eines Boethius oder Placidus, wenn Scaliger, der sonst mit ihnen wohlverträglich ist, mit Beispielen gegen ihre Unterscheidung von tragischer und komischer Dichtung, die ja bekanntlich über das Dramatische hinausgriff, auftrat.400 Sie lautet in dem Text des Vincenz von Beauvais: »Est autem Comoedia poesis, exordium triste laeto fine commutans. Tragoedia vero poesis, a laeto principio in tristem finem desinens.«401 Ob dieses traurige Ereignis in verteilter Rede oder in prosaischem Fluß sich gibt, gilt als ein beinah wesenloser Unterschied. Demgemäß hat Franz Joseph Mone überzeugend die Bindung zwischen mittelalterlichem Schauspiel und mittelalterlicher Chronik dargetan. Es zeigt sich, »daß die Weltgeschichte von den Chronikschreibern als ein großes Trauerspiel angesehen« wurde »und die Weltchroniken mit den altdeutschen Schauspielen zusammen hängen. In so fern nämlich der jüngste Tag der Schluß jener Chroniken ist, wie das Ende des Dramas der Welt, so hängt die christliche Geschichtsschreibung freilich mit dem christlichen Schauspiele zusammen, und es kommt hier darauf an, die Äußerungen der Chronikschreiber zu beachten, welche diesen Zusammenhang deutlich angeben. Otto von Freisingen sagt (praefat ad Frid. imp.): cognoscas, nos hanc historiam ex amaritudine animi scripsisse, ac ob hoc non tam rerum gestarum seriem quam earundem miseriam in modum tragoediae texuisse. Er wiederholt dieselbe Ansicht in der praefat. ad Singrimum: in quibus (libris) non tam historias quam aerumnosas mortalium calamitatum tragoedias prudens lector invenire poterit. Die Weltgeschichte war also dem Otto eine Tragödie, zwar nicht der Form aber dem Inhalt nach.«402 Fünfhundert Jahre später, bei Salmasius, ist es dieselbe Anschauungsweise: »Ce qui restoit de la Tragedie iusques à la conclusion a esté le personnage des Independans, mais on a veu les Presbyteriens iusques au quatriesme acte et au delà, occuper auec pompe tout le theatre. Le seul cinquiesme et dernier acte est demeure pour le partage des Independans; qui ont paru en cette scene, apres auoir sifflé et chasse les premiers acteurs. Peut estre que ceux-là n’auroient pas fermé la scene par vne si tragique et sanglante catastrophe.«403 Hier, weitab von dem Gehege der hamburgischen, geschweige der nachklassischen Dramaturgie, in der ›Tragödie‹, die das Mittelalter vielleicht mehr noch in die dürftige Überlieferung der antiken Dramenstoffe hineininterpretierte, als in seinen Mysterien realisiert sah, eröffnet sich die Formwelt des barocken Trauerspiels.
Indessen: wo das christliche Mysterium wie die christliche Chronik das Ganze des Geschichtsverlaufs, den welthistorischen als einen heilsgeschichtlichen, vor Augen stellen, hat die Haupt- und Staatsaktion mit einem bloßen Teile des pragmatischen Geschehns zu tun. Die Christenheit oder Europa ist aufgeteilt in eine Reihe von europäischen Christentümern, deren geschichtliche Aktionen nicht mehr in der Flucht des Heilsprozesses zu verlaufen beanspruchen. Die Verwandtschaft des Trauerspiels mit dem Mysterium wird in Frage gestellt durch die ausgangslose Verzweiflung, die das letzte Wort des säkularisierten christlichen Dramas sein zu müssen scheint. Denn niemand wird die stoische Moralität, in welche das Martyrium des Helden mündet, oder die Gerechtigkeit, die das Wüten der Tyrannen auf Wahnsinn hinausführt, für ausreichend erachten, die Spannung einer eigenen Dramenwölbung zu begründen. Eine massive Schicht von ornamentaler, wahrhaft barocker Stukkatur verdeckt ihren Schlüsselstein und einzig die präzise Erforschung ihrer Bogenspannung errechnet ihn. Es ist die Spannung einer heilsgeschichtlichen Frage, wie die Säkularisierung des Mysterienspiels, die nicht unter den Protestanten der schlesischen und nürnberger Schule allein, sondern genau so unter den Jesuiten und Calderon sich vollzog, ins Ungemessene sie sich dehnen ließ. Denn wenn die Verweltlichung der Gegenreformation in beiden Konfessionen sich durchsetzte, so verloren darum nirgends die religiösen Anliegen ihr Gewicht: nur die religiöse Lösung war es, die das Jahrhundert ihnen versagte, um an deren Stelle eine weltliche ihnen abzufordern oder aufzuzwingen. Unter dem Joch dieses Zwanges, dem Stachel jener Forderung durchlitten diese Geschlechter ihre Konflikte. Von allen im tiefsten zerrissenen und zwiespältigen Zeiten der europäischen Geschichte ist das Barock die einzige, die in eine Periode unerschütterter Herrschaft des Christentums fiel. Die mittelalterliche Straße der Empörung, die Häresie, war ihr verstellt; teils eben weil das Christentum mit Nachdruck die Autorität behauptete, vor allem jedoch, weil in den heterodoxen Nuancen der Lehrmeinung und Lebensführung die СКАЧАТЬ