Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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Auch die leidenschaftlichen Gesänge der Straßenverkäufer erkannte er: »Jâ rezzah, jâ kerim, jâ fettah, jâ alim«, so schwärmte noch immer der Junge, der das ringförmige Weißbrot aus seinem Korbe feilbot: »O Allernährer, o Allgütiger, o Allerschließer, o Allwissender!« Noch immer pries der uralte Ruf die frischen Datteln an: »O Braune du, Braune der Wüste, o Mädchen!« Auch der Salathändler blieb bei seiner kehligen Feststellung: »Ed daim Allah, Allah ed daim!« Daß das Dauernde allein Gott, daß Gott allein das Dauernde sei, dies mochte den Käufer im Hinblick auf die Ware trösten. Gabriel kaufte einen Berazik, ein mit Traubensirup bestrichenes Brötchen. Auch an diese »Schwalbenspeise« besaß er eine Kindheitserinnerung. Beim ersten Bissen aber erfaßte ihn ein Ekel und er schenkte das Backwerk einem Jungen, der ihm begeistert auf den Mund sah. Er schloß für ein paar Sekunden die Augen, so elend war ihm zumute. Was hatte sich denn ereignet und die Welt ganz und gar verwandelt? Hier in diesem Lande war er geboren. Hier müßte er auch zu Hause sein. Aber wie? Der unaufhaltsam gleichmäßige Menschenstrom des Bazars machte ihm die Heimat streitig. Er spürte es, obgleich die in sich versunkenen Gesichter ihn gar nicht anblickten. Und der junge Müdir? Er hatte sich höchst korrekt und höflich benommen. »Die hochansehnliche Familie Bagradian.« Doch Gabriel glaubte jetzt mit einem Schlag zu erkennen, daß diese ganze Höflichkeit samt ihrer hochansehnlichen Familie eine einzige Impertinenz war. Ja mehr als das, Haß, in gebildete Formen verkleideter Haß. Und derselbe Haß umflutete ihn hier. Er brannte ihm auf der Haut, er verletzte seinen Rücken. Und wirklich, sein Rücken war voll plötzlicher Furcht wie der eines Verfolgten, ohne daß sich eine Menschenseele um ihn kümmerte. In Yoghonoluk, in dem großen Haus, bei sich selbst, da wußte er von alledem nichts. Und früher in Paris? Dort hatte er trotz alles Wohlbefindens in dem kühlen Zustand eines eingewanderten Fremden gelebt, der anderswo wurzelt. Wurzelte er hier? Jetzt erst, in diesem elenden Bazar seiner Heimat konnte er den absoluten Grad seiner Fremdheit auf Erden ganz ermessen. Armenier! Uraltes Blut, uraltes Volk war in ihm. Warum aber sprachen seine Gedanken öfter französisch als armenisch, wie zum Beispiel jetzt? (Und doch hatte er an diesem Morgen eine deutliche Freude empfunden, als sein Sohn ihm armenisch antwortete.) Blut und Volk! Ehrlich sein! Waren das nicht auch nur leere Begriffe? In jedem Zeitalter streuen sich die Menschen andre Ideen-Gewürze auf die bittere Lebensspeise, um sie noch ungenießbarer zu machen. Eine Seitengasse des Bazars öffnete sich vor seinen Blicken. Dort standen zumeist Armenier vor ihren Läden und Verkaufsständen: Geldwechsler, Teppichhändler, Juweliere. Dies also waren seine Brüder? Diese verschlagenen Gesichter, diese irisierenden Augen, die auf Kundschaft lauerten? Nein, für diese Bruderschaft dankte er, alles in ihm wehrte sich dagegen. War jedoch der alte Awetis Bagradian ehemals etwas andres und Besseres gewesen als solch ein Bazarhändler, wenn auch weitblickender, begabter, energischer? Und hatte er es nicht dem Großvater allein zu verdanken, daß er nicht so sein mußte wie dieser und wie jene hier? Er ging, von Widerwillen geschüttelt, weiter. Dabei wurde es ihm bewußt, daß eine große Schwierigkeit seines Lebens in dem Umstand lag; daß er manches schon mit den Augen Juliettens sah. Er war also nicht nur in der Welt, sondern auch in sich selbst ein Fremder, sobald er mit den Menschen in Berührung kam. Jesus Christus, konnte man denn nicht ein Mensch an sich sein? Frei von diesem schmutzigen, feindlichen Gewimmel, wie heute morgen auf dem Musa Dagh?
Nichts war entnervender als solch eine Probe auf die eigene Wirklichkeit! Gabriel floh den Usun Tscharschy, den langen Markt, wie der Bazar im Türkischen hieß. Den feindseligen Rhythmus konnte er nicht länger ertragen. Dann stand er auf einem kleinen, von neueren Bauten gebildeten Platz. Ein hübsches Gebäude trat hervor, Hamam, das Dampfbad, wie überall in der Türkei mit einiger Verschwendung errichtet. Es war noch zu früh für den Besuch beim alten Agha Rifaat Bereket. Da es ihn auch nicht gelüstete, in eines der zweifelhaften Speisehäuser einzukehren, trat er in das Badehaus.
Zwanzig Minuten verbrachte er in der großen allgemeinen Schwitzhalle, in dem langsam steigenden Gewölk, das nicht nur die Körper der anderen Badenden gespenstisch entfernte, sondern auch seinen eigenen Leib von ihm selbst fortzutragen schien. Es war wie ein kleiner Tod. Er fühlte die undurchsichtige Bedeutung dieses Tages. Die Tropfen rannen an seinem fernen Körper hinab und mit ihnen ein mühsamer Glaube, an dem er bisher festgehalten hatte.
Im kühlen Nebenraum legte er sich auf eine der leeren Pritschen, um sich der üblichen Behandlung anheimzugeben. Ihm war, als sei er jetzt nackter, wenn man das sagen darf, als vorhin im Dampf. Ein Badeknecht warf sich auf ihn und begann nach allen Regeln der Kunst, die wirklich eine war, sein Fleisch zu kneten. Mit trillernden Schlägen spielte er auf seinem Rumpf wie auf einem Zimbal. Zu dieser Begleitung summte er keuchend. Auf den Nachbarpritschen wurden einige türkische Beys in ähnlicher Weise bearbeitet. Sie schickten sich mit wohligen Wehlauten in den zornigen Eifer der Badeknechte. Zwischeninne – von jenen Schmerzlauten unterbrochen – führten die Stimmen in abgerissenen Sätzen eine Unterhaltung. Gabriel wollte zuerst gar nicht hinhorchen. Aber durch das Summen des Quälgeistes hindurch drängten sich die Stimmen seinen Ohren unabweisbar auf. Sie waren so überaus persönlich und so scharf voneinander unterschieden, daß Gabriel diese Stimmen zu sehn vermeinte.
Die erste, ein fetter Baß. Zweifellos ein selbstbewußter Charakter, der den größten Wert darauf legte, alles zu wissen, was vorging, womöglich noch vor den zuständigen Beamten. Dieser Mann der Informiertheit besaß seine heimlichen Quellen:
»Die Engländer haben ihn in einem Torpedoboot von Zypern an die Küste geschickt ... Bei Oschlaki war das ... Der Mann hat Geld und Gewehre gebracht und sieben Tage das Dorf aufgewiegelt ... Die Saptiehs haben natürlich von nichts gewußt ... Ich kenne sogar den Namen ... Köschkerian heißt das unreine Schwein ...«
Die zweite Stimme, hoch und ängstlich. Ein älteres, friedfertiges Männchen gewiß, das sich sträubt, an das Böse zu glauben. Die Stimme hatte gewissermaßen einen kleineren Wuchs als die anderen und sah zu ihnen auf. Für ihre lustvollen Schmerzlaute benützte sie den erhabenen Vers des Korans als unterlegten Text:
»La ilah ila 'llah ... Gott ist groß ... Das geht ja nicht ... Vielleicht aber ist es nicht wahr ... la ilah ila 'llah ... Man redet sehr viel ... Es wird auch nur ein Gerede sein ...«
Der fette Baß, verachtungsvoll:
»Ich besitze sehr ernste Briefe einer hohen Persönlichkeit ... eines treuen Freundes ...«
Dritte Stimme. Ein schnarrender Scharfmacher und politischer Kannegießer, dem es rechte Freude zu machen schien, wenn es auf der Welt drunter und drüber ging:
»Das kann man sich nicht länger gefallen lassen ... Es muß ein Ende gemacht werden ... Wo bleibt die Regierung? ... Wo bleibt Ittihad? ... Das Unglück ist die Wehrpflicht ... Man hat das Pack noch bewaffnet ... Jetzt sehet zu, wie ihr mit ihnen fertig werdet ... Der Krieg ... Ich rede mir schon seit Wochen die Lunge aus dem Leib ...«
Vierte Stimme, sorgenbeschwert:
»Und Zeitun?«
Das friedfertige Männchen:
»Zeitun? Wie das? ... Allmächtiger? ... Was gibt es denn in Zeitun?«
Der Scharfmacher, bedeutungsvoll:
»In Zeitun? ... Die Nachricht ist in der Lesehalle des Hükümet angeschlagen ... Jeder kann sich überzeugen ...«
Der informierte Baß:
»In diesen Lesehallen, welche die deutschen Konsuln überall eingeführt haben ...«
Von der entferntesten Pritsche her unterbrach eine fünfte Stimme:
»Die Lesehallen haben wir selbst eingeführt.«
Ein dunkler Rauch von unverständlichen Anspielungen: СКАЧАТЬ