Название: Kemet
Автор: Melanie Vogltanz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783945045657
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Chepre wagte es kaum, seinen Facettenaugen zu trauen, beim Anblick des Panoramas, das sich da vor ihm erstreckte. Rasch erklomm er die nächstgelegene Düne, um einen besseren Aussichtspunkt zu erreichen, gelegentlich zurückgeworfen von rutschendem Sand doch immer noch unaufhaltsam, bis er schließlich am höchsten Punkt des gelben Berges angelangt war. Erneut verinnerlichte er, was da vor ihm lag, immer noch versetzte es ihn in Staunen. Was einst eine Siedlung gewesen war, hatte sich während seines Exils zu einer Stadt entwickelt, von ihm bislang unbekannten Ausmaßen. Unzählige steinerne Türme ragten dem Himmel entgegen, Bauwerke, die selbst die großen Pyramiden in ihren Schatten verschwinden ließen. Zwischen den Gebäuden eilten Menschen umher, mehr als Chepre je zuvor gesehen hatte, wie ein Fleisch gewordener Fluss strömten sie durch die Gassen und Straßen.
War dies das Werk des Namenlosen? Chepre und seine Geschwister hatten die Menschen über unzählige Generationen hinweg geführt, sie aus der unbarmherzigen Wildnis hervorgehoben um sie schließlich in die Wiege ihrer eigenen Zivilisation zu legen. Er hatte gedacht, dass das Volk ohne die Führung des Pantheons an den Rand des Aussterbens geraten wäre, doch das Gegenteil war der Fall.
Eine Mischung aus Ehrfurcht und Respekt packte den alten Gott, nie hätte er sich träumen lassen welche Entwicklungen sich am Rande seiner Wüste zugetragen hatten. Doch trotz der klaren Einflüsse des Namenlosen war auch hier nichts von seiner Macht zu spüren. Nicht in den großen Bauwerken, nicht in jenen, die sie bewohnten, nichts von ihm schien zurückgeblieben zu sein.
Der kleine Skarabäus öffnete seinen Panzer und ließ schillernde Flügel zum Vorschein kommen. Er musste sich das Ganze näher ansehen. So flog er in die Stadt, zunächst mit Bedacht, doch bald schon ließ eine nicht länger zu unterdrückende Neugier ihn jede Vorsicht über Bord werfen. Surrend flog er durch die Stadt, frei sich zum ersten Mal seit Jahrtausenden ohne Furcht zu bewegen, und das tat er auch, zumindest bis er erstmalige Bekanntschaft mit einem bis dahin unbekannten Material namens Glas machte.
Hart schlug er gegen die transparente Barriere, der Aufprall machte ihn benommen, ließ ihn zu Boden stürzen, wo er verwirrt auf den Rücken fiel, die Beine hilflos in der Luft zappelnd.
Als der Schleier der Benommenheit sich lichtete, sah er am Rande seines Sichtfelds einen Menschen, der sich direkt auf ihn zubewegte, ein gewaltiger Koloss, dessen Schritte den Boden erbeben ließen. Verzweifelt versuchte der Gott, sich aufzurichten, doch die Ewigkeit im Sand hatte ihn vergessen lassen, wie er sich auf festen Texturen umzudrehen vermochte, und die Erde unter ihm blieb unnachgiebig gleich, so sehr er sich auch bemühte, sie anzupassen.
Der Schatten des Todes ereilte ihn schließlich in Form einer billigen Sandale. Mit einem knirschenden Geräusch gab seine Panzerung dem Druck nach. Chepre starb.
***
Chepre erwachte erneut in einer Welt der Dunkelheit. Es war nicht einfach eine Finsternis, die auf die Abwesenheit von Licht zurückzuführen war, es war eine Schwärze, in deren Welt Licht nicht zu existieren vermochte. Er kannte diesen Ort besser, als ihm lieb war, war es doch die Unterwelt, die er so sehr scheute. Einst war sie voller Leben gewesen, angereichert mit all jenen, die aus der Welt der Sterblichen geschieden waren, Menschen und Tieren. Auch manch ein Pharaoh ließ sich hier finden, mit seiner Dienerschaft aus Uschebti, die ihm wohlwollend zur Seite standen.
Diese Zeiten gehörten jedoch der Vergangenheit an. Durch den Verlust seiner Macht vermochte Chepre es nicht länger, die Sonne aus der Welt der sterblichen des Nachts in die Unterwelt zu rollen, wo sie den Toten dieselbe Kraft spenden konnte, wie sie es bei den Lebenden tat. Seit dem Fall des Pantheons stand sie nun bereits fest am Himmel, so lange, dass die Welt begonnen hatte, sich um sie zu drehen, wie ein perverser Umkehrschluss des einstigen Systems. Es belastete den Gott sehr, zu sehen, wie eine der zwei Welten, um die er sich einst so sorgsam gekümmert hatte, durch seine Untätigkeit verfallen war…
Nicht länger! Zum ersten Mal seit tausenden von Jahren schöpfte er neue Hoffnung. Er würde sie sich nicht von dieser Welt nehmen lassen! Er war der, der sich selbst erschaffen hatte, er zwang sich aus der Leere des Nichts in die Existenz und er würde sich auch nicht von den Fesseln der Unterwelt halten lassen.
Der Gott begann sich zu konzentrieren, auf jene Momente, die vor den ersten Sekunden seines Lebens standen, das Gefühl, existieren zu wollen, ohne auch nur zu wissen, was es hieß zu existieren. Der Drang, zu sein! Erinnerungen jener Zeit visualisierten sich, Gefühle wie kein anderes Wesen sie je gekannt hatte, war es doch nicht das Leben, nach dem es ihn strebte, sondern blanke Existenz!
Nichts passierte. Hatte er etwas falsch gemacht? Er versuchte es ein weiteres Mal! Und ein weiteres Mal! Wieder und wieder, jeder Versuch erfolglos. War er verdorben vom Nektar der Existenz, war es nicht dasselbe aus dem Tod in die Welt des Lebens zurückzukehren, als sie das erste Mal aus dem Nichts heraus zu betreten? Stundenlang bemühte er sich weiter, doch die Dunkelheit wich nicht, gab ihn nicht dem Leben preis.
Er wollte bereits aufgeben, geschlagen sein müdes Haupt senken, da bemerkte er eine Veränderung. Er konnte sich nicht bewegen. Nicht nur das, sein ganzer Körper schien von Wärme eingehüllt zu werden. Als ihm endlich klar wurde, was hier passierte, fing er an, sich mit aller Kraft zu strecken, langsam aus der Starre auszubrechen, seine Freiheit Millimeter um Millimeter zurückzuerlangen.
Wenige Augenblicke später barst er aus dem Dungball hervor, der ihn bis eben eingeschlossen hatte. Heiß schien die Sonne erneut auf seinen goldenen Panzer hernieder, der nun stellenweise von fäkalen Überresten bedeckt war, doch das bekümmerte ihn nicht. Er hatte es geschafft, ein weiteres Mal war er in der Welt der Sterblichen angekommen!
Die Erfahrung hatte ihn entkräftet, aber er hatte keine Zeit, zu ruhen. Mit ausgebreiteten Flügeln schoss er hoch zum Himmel der Sonne entgegen, ließ die gesamte Wüste unter sich zurück. Rasch orientierte er sich neu, suchte nach den Himmelsrichtungen, bis er zweifelsfrei wusste, in welcher Himmelsrichtung Norden war, wohin sich der Namenlose nach dem Ende seiner Kreuzzüge zurückgezogen hatte, auf jenen Kontinenten hinter dem großen Meer. Für Chepre wurde es Zeit, die längste und gefährlichste Reise, die er in seinem Leben je gewagt hatte, anzutreten.
Begleitet einzig vom Brummen seiner Flügel, flog er Tage und Nächte lang, bis er schließlich die Küste erreichte und weiter auf das offene Meer hinausflog. Während seiner Reise zog ein Sturm auf, Regentropfen so groß wie sein gesamter Körper fielen vom Himmel auf ihn herab und drängten ihn in das tosende Meer unter ihm, wo die Wellen ihn gierig verschlangen. Er starb.
***
Erneut erwachte er, erneut rang er sich ins Leben zurück und trat jene Reise an. Diesmal landete er auf einem Schiff der Menschen, versuchte den Ozean damit zu überqueren. Es sah vielversprechend aus, er kam sehr schnell voran, bis ihn eine Seemöwe entdeckte und ein gezielter Stoß ihres gelben Schnabels seinen Kopf zerschmetterte. Er starb.
Er erwachte, fing an einen Tunnel zu graben, unter dem Meer hindurch auf der niedrigsten Ebene der Welt, bis die Decke über ihm nachgab und ihn lebendig begrub. Er starb.
Er flog über der Wolkendecke, bis er einfror und als harter Brocken vom Himmel stürzte, hinab auf den Boden, der ihn zerbersten ließ. Er starb.
Er schwamm auf einem Stück Treibholz und starb. Er versteckte sich im Gepäck eines Reisenden und starb. Im Gefieder eines Vogels. Er starb. Er ritt im Auge eines Taifuns. Er starb. Er lebte. Er starb. Er starb. Er starb.
Er starb tausend Tode und mehr, jeder seiner Versuche versetzte ihn zurück an den Anfang, jeder Verlust seines Lebens zerschmetterte seinen Körper, doch sein Geist blieb ungebrochen, sein Wille stählern. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er dieses Unterfangen СКАЧАТЬ