Название: Gesammelte Werke
Автор: Franziska Gräfin zu Reventlow
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075837110
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Deine Mutter.
Geliebtes, vielen Dank für Deinen Brief. Es ist schrecklich öde ohne Dich. In der Schule ziehe ich mich immer mehr zurück und gehe viel allein spazieren. Nachmittags dichte ich gewöhnlich.
Dein schwarz und gelber Vogel ist gestorben, aber sei nicht traurig, ich will Dir mein anderes Männchen schenken. Ich habe zwei Photographien von Geerd gekriegt, aber Mama erlaubt nicht, daß ich Dir eine schicke. Jetzt weiß ich nichts mehr. Eure Briefe werden ja auch immer gelesen und da kann man nichts Ordentliches schreiben.
Dein Detlev.
A..., Juni 1885
– – – morgen darf ich mit den D.'s und ihrer Mutter in die Stadt, da kann ich heimlich einen Brief einstecken und schicke ihn an Jens Ketelsen, der ihn Dir in der Schule geben soll. – Gott, Detlev, Du machst Dir gar keinen Begriff davon, wie schrecklich es hier ist. Man ist eingesperrt wie im Zuchthaus und kommt gar nicht heraus, außer bei dem langweiligen Spaziergang, wo man in Reih und Glied geht und vor jedem Hofwagen knicksen muß. Sonst immer nur lernen, den ganzen Tag, die Fleißigen lernen sogar auch bei der Promenade und im Bett. Ich bin schon sehr oft hereingefallen, gleich in der ersten Zeit, weil ich eine andre geohrfeigt hatte und die Treppe herunterrutschte. Dann waren wir neulich im Garten und haben Stachelbeeren gerappst. Nun dürfen wir in der Freistunde nicht mehr hinunter und kriegen ins Zeugnis, daß wir gestohlen haben. Und so weiter. – Übrigens hab' ich jetzt eine Flamme, sie heißt Editha und ist bei weitem die Hübscheste. Ich schwärme sehr für sie und habe schon viele Gedichte auf sie gemacht. – Hoffentlich komme ich Michaelis in die erste Klasse, dann sind wir immer zusammen. Leider geht sie nächste Ostern schon ab. Ach Du, ich weiß nicht, wie ich es hier noch so lange aushalten soll und dann noch ein ganzes Jahr. Die Pröpstin kann mich nicht ausstehen, gerade wie Mama, und sie können alle nicht begreifen, daß man toben muß, wenn man vergnügt ist. Wir dürfen uns hier nur ›sittsam und anständig bewegen‹.
Ich schicke Dir eine Karikatur von unsrer Mademoiselle, die andern finden sie sehr ähnlich. Ich zeichne überhaupt in allen Freistunden. Aber laß um Gottes willen nichts herumliegen.
Deine Ellen.
Nevershuus, Oktober 1885
Liebe Ellen, Deine Versetzung in die erste Klasse hat uns sehr gefreut und überrascht. Es ist mir sehr lieb zu hören, daß Du Deine frühere Trägheit abgelegt hast und gut weiterkommst. Nun sorge aber auch das nächste Mal für ein gutes Zeugnis im Betragen. Ich weiß, wie schwer es Dir wird, Deine Lebhaftigkeit zu zügeln, aber bedenke, daß Du jetzt am Konfirmationsunterricht teilnehmen und anfangen sollst, eine junge Dame zu werden. Wir müssen uns alle mehr oder minder in das Leben schicken. Sei herzlichst gegrüßt von Deinem Vater.
A..., November 1885
Liebster Detlev, eben hab' ich den Diener auf der Treppe erwischt, und er will mir den Brief besorgen. – Es hat eine große Mordsgeschichte gegeben, und wäre nicht die ganze Klasse dabei gewesen, so hätte man mich und Editha sofort geschwenkt. Die Alte will an all unsre Eltern sofort schreiben, und wir haben schon einen Preis ausgesetzt, wer den ärgsten Brief von zu Hause kriegt. Ich hab' aber doch verfluchte Angst vor den jungen Leuten. Denk' nur, wenn sie mich hier wirklich herausgeworfen hätten, es war nicht mehr weit davon. – Also es war so: Unsre Erste war letzten Sonntag nicht da, Editha als Zweite sollte sie vertreten, und wir überredeten sie, den Abend volle Freiheit zu geben. Als das Mädchen fort war, standen wir wieder auf. Maria Besserer blies die Mundharmonika, und wir sangen und tanzten. Nun ist hinten am Saal eine Tür, die auf den Speicher geht, und da bekamen wir Lust, eine Entdeckungsreise zu machen. Editha ging mit der Nachtlampe voran. Du glaubst nicht, wie schön sie war mit ihren langen, schwarzen Haaren. – Erst hielt sie noch eine Rede über die Mysterien des Stiftes: wir sollten uns gefaßt machen, auf eingetrocknete Blutflecken und Leichen von früheren Stiftskindern zu stoßen. Einige wurden so bange, daß sie wieder in ihre Betten krochen.
Dann kamen wir in lauter alte Bodenräume, voll Gerümpel und Spinneweben, und überall schien der Mond herein. Editha und ich stiegen auf die Leitern in den Turm hinauf, durch die Luke hinaus und rutschten das ganze Kapellendach entlang. Das haben die dummen Gänse nachher, als sie ausgefragt wurden, alles erzählt.
Nachher stellten wir die Lampe auf den Boden und tanzten einen Indianertanz drum herum. Dabei haben wir so gehopst, daß wir den andern Tag ganz lahm waren.
Zuletzt liefen wir noch auf den Korridor hinaus und brachten dem vierten Schlafsaal ein Ständchen und warfen ihnen Stiefel ins Bett.
Die haben uns dann angezeigt – ist das nicht eine Gemeinheit? Die Alte kam selbst in die Klasse, alle sagten, so wütend hätte man sie noch nie gesehen. »Die Sünde ist unter euch wie ein fressender Eiter«, sagte sie einmal – dabei platzte ich heraus, und nun fuhr sie auf mich los: ich wäre die Anstifterin, das wüßte sie ganz genau. Ich hätte die andern verleitet, im Nachthemd auf den Korridor zu gehen, und das wäre unsittlich usw.
Es ist immer noch große Aufregung im Stift, denn fortwährend kommen neue Schandtaten heraus, auch von dem vierten Schlafsaal, der uns angezeigt hat. Aber es ist nicht recht dahinterzukommen, was die eigentlich gemacht haben, denn das wird alles bei der Pröpstin im Zimmer verhandelt. Sie hat nur die Erste abgesetzt und alle in andre Schlafsäle verteilt.
Na, Gott sei Dank, Weihnachten sehen wir uns wieder, dann hab' ich Dir noch viel zu erzählen. Aber ich werde dann wohl sehr in Ungnade sein.
Deine Ellen.
Ist Fritz H. noch auf der Schule? Seit ich Editha habe, bin ich lange nicht mehr so verliebt in ihn. Hier ist überhaupt niemand in Jungens verliebt, wer keine Flamme hat, schwärmt für den Pfarrer. Aber nun leb wohl.
Deine Ellen.
Am Neujahrstage saß Ellen in ihrer Heimatskirche und legte wie in Kinderzeiten glühende Besserungsgelübde zu Gottes Füßen nieder. Ein furchtbares Unwetter von elterlichem Zorn war über sie hingebraust, und der Vater hatte lange und ernst mit ihr gesprochen. »Was soll denn aus dir werden, wenn sie dich nun fortschicken und es immer so weiter geht?«
Ihr war selbst bange geworden, was aus ihr werden sollte, aber es war ja noch nicht zu spät, sie wollte sich wirklich ändern, sich mehr im Zaume halten.
Aber sie fühlte sich doch nicht ganz sicher, und dies Gefühl wurde noch stärker, als sie wieder in der Pension war. Die ersten Wochen ging es ganz gut. Unter den jungen Mädchen war jetzt viel von der Konfirmation die Rede. Der Pfarrer hatte damit angefangen, ihnen die Grundlagen und das Wesen des Christentums zu erzählen, dann kamen die einzelnen Gebote und ihre Beziehung auf das Leben – der ganze schwerwiegende Ernst, der in all den Drohungen und Verheißungen lag – Gottes Zorn und Gottes Gnade. Als die Sünde wider den heiligen Geist besprochen wurde – die Sünde des Gläubigen, der mit vollem Bewußtsein die Gnade verscherzt, die furchtbarste, äußerste Sünde, für die keine Vergebung ist, folgten sie angstvoll jedem seiner Worte und zitterten bis in die tiefste Seele hinein unter demselben Gedanken: und wenn nun ich sie begangen hätte?
Sie sollten nun bald zum erstenmal an den Altar Gottes treten und davor stand das Wort: Wer aber unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selber das Gericht. Wie ein Schauer lief es durch die Reihe der zwölf jungen Mädchen, die andächtig auf ihrer Schulbank saßen, und zugleich lag ein mächtiger Reiz darin, schuldvoll und niedergeschlagen vor diesem Mann dazustehen, der ihnen bis ins tiefste Innere schauen konnte und wußte, was Sünde war.
Für Ellen war der Pfarrer von allen Vorgesetzten der einzige, zu dem СКАЧАТЬ