„Ich nehme an, daß ein anderer auch das Bett für Sie macht?"
„Ich habe mir mein Bett gemacht", erwiderte sie.
„Oft?"
Sie schüttelte den Kopf mit verstellter Reue.
„Wissen Sie, was man in den Staaten mit Armen tut, die wie Sie nicht für ihren Unterhalt arbeiten?"
„Ich bin sehr unwissend", erwiderte sie, „was tut man mit meinesgleichen?"
„Man sperrt sie ein. Das Verbrechen, seinen Lebensunterhalt nicht zu verdienen, wird Landstreicherei genannt. Wäre ich Herr van Weyden, der sich andauernd mit der Frage beschäftigt, was Recht und Unrecht ist, so würde ich fragen, mit welchem Recht Sie leben, wenn Sie nichts tun, um Ihren Unterhalt zu verdienen."
„Da Sie aber nicht Herr van Weyden sind, brauche ich Ihnen nicht zu antworten, nicht wahr?"
Sie sandte ihm aus ihren angstvollen Augen einen strahlenden Blick, der so rührend war, daß es mir ins Herz schnitt. Ich mußte irgendwie versuchen, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
„Haben Sie je einen Dollar durch eigene Arbeit verdient?" fragte er triumphierend, im voraus seiner Sache sicher.
„Ja, das habe ich", antwortete sie, und ich hätte fast über sein verlegenes Gesicht lachen können. „Ich erinnere mich, daß mein Vater mir einmal, als ich ein kleines Mädchen war, einen Dollar gab, damit ich fünf Minuten lang still war." Er lächelte nachsichtig.
„Aber das ist lange her", fuhr sie fort. „Und Sie werden wohl kaum verlangen, daß ein neunjähriges Mädchen sich seinen Lebensunterhalt selbst verdient. Gegenwärtig aber", fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, „verdiene ich ungefähr achtzehnhundert Dollar jährlich."
Alle Augen hoben sich auf einmal von den Tellern und hefteten sich auf sie. Eine Frau, die achtzehnhundert Dollar jährlich verdiente, war wert, angeschaut zu werden. Wolf Larsen verhehlte seine Bewunderung nicht: „Gehalt oder Akkordarbeit?"
„Akkordarbeit", antwortete sie rasch. „Achtzehnhundert", rechnete er. „Das macht hundertfünfzig monatlich. Nun, Fräulein Brewster, wir sind nicht kleinlich auf der Ghost. Betrachten Sie sich für die Dauer Ihres Aufenthalts mit demselben Gehalt angestellt."
Sie sagte nichts. Sie war seine Einfälle noch nicht so gewohnt, daß sie sie mit Gleichmut hingenommen hätte.
„Ich vergaß zu fragen", fuhr er liebenswürdig fort, „welcher Art Ihre Beschäftigung ist. Was für Werkzeuge und Material brauchen Sie?"
„Papier und Tinte", lachte sie. „Ach, und auch eine Schreibmaschine. "
„Sie sind Fräulein Maud Brewster", sagte ich langsam und sicher, als beschuldigte ich sie eines Verbrechens.
Ihre Augen hoben sich neugierig zu den meinen: „Woher wissen Sie das?"
„Stimmt es nicht?" fragte ich.
Sie nickte zustimmend. Jetzt war die Reihe, verblüfft zu sein, an Wolf Larsen. Ihm bedeutete der Name nichts. Ich war stolz darauf, daß er mir etwas bedeutete, und zum erstenmal seit langer Zeit wurde ich mir meiner Überlegenheit über ihn bewußt.
„Ich erinnere mich, eine Besprechung über ein kleines Buch geschrieben zu haben -", begann ich, aber sie unterbrach mich.
„Sie!" rief sie. „Sie sind -" Jetzt nickte ich meinerseits zustimmend. „Humphrey van Weyden!" schloß sie - dann fügte sie mit einem Seufzer der Erleichterung hinzu, ohne daran zu denken, daß Wolf Larsen ihn bemerken mußte: „Wie mich das freut! Ich entsinne mich recht wohl der Besprechung", fuhr sie fort, als sie sich bewußt wurde, wie seltsam ihre Bemerkung wirken mußte. „Sie war wirklich zu schmeichelhaft."
„Keineswegs", verneinte ich schnell. „Sie setzen meine nüchterne Urteilskraft herab und entwerten meine Kritik. Im übrigen stimmen alle Kritiker mit mir überein. Hat Lang nicht ein Gedicht von Ihnen zu den vier größten Sonetten gezählt, die von Frauen in englischer Sprache geschrieben worden sind?"
„Sie sind sehr freundlich", murmelte sie, und gerade das Konventionelle ihrer Worte und der ganze Schwarm von Vorstellungen des früheren Lebens auf der andern Seite der Welt durchzuckten mich - reich an Erinnerungen, aber auch stechend vor Heimweh.
„Also Sie sind Maud Brewster", sagte ich feierlich und blickte sie an.
„Und Sie sind Humphrey van Weyden", sagte sie und erwiderte meinen Blick ebenso feierlich und furchtsam. „Wie seltsam! Es ist mir alles ganz unverständlich. Wir haben sicherlich eine wildromantische Seegeschichte von Ihnen zu erwarten."
„Nein, ich sammle keinen Stoff, das versichere ich Ihnen", lautete meine Antwort. „Ich habe weder Geschick noch Neigung, einen Roman zu schreiben."
Und dann vergaßen wir ganz, wo wir waren, und ließen Wolf Larsen stumm und wie ein gescheitertes Schiff inmitten der Brandung unserer Unterhaltung. Die Jäger standen auf und gingen an Deck, und wir sprachen immer noch. Nur Wolf Larsen blieb. Plötzlich wurde ich seiner Anwesenheit inne, er saß zurückgelehnt am Tisch und lauschte neugierig unsern fremdartigen Reden über eine Welt, die er nicht kannte.
Ich brach mitten im Satz ab. Die Gegenwart mit all ihren Gefahren und Schrecken lahmte mich. Fräulein Brewster mußte es ähnlich ergehen, ein unbestimmtes namenloses Entsetzen trat in ihre Augen, die jetzt auf Wolf Larsen fielen. Er erhob sich und lachte verlegen mit einem seltsamen, metallischen Klang. „Oh, kümmern Sie sich nicht um mich", sagte er mit einer Handbewegung, als wolle er seine eigene Unterwürfigkeit kundgeben. „Ich zähle doch nicht. Bitte, fahren Sie nur fort."
Aber die Tore der Beredsamkeit waren geschlossen. Auch wir erhoben uns und lachten verlegen.
Der Verdruß, den Wolf Larsen empfand, weil Maud Brewster und ich ihn in unserer Unterhaltung bei Tisch übersehen hatten, mußte sich irgendwie Luft machen, und Thomas Mugridge sollte der Sündenbock sein. Trotz seiner gegenteiligen Behauptung hatte er weder sein Benehmen noch sein Hemd gewechselt. Dieses Kleidungsstück widerlegte ihn ebenso wie die Fettablagerungen auf Ofen, Töpfen und Pfannen, die aller Begriffe von Reinlichkeit spotteten.
„Ich habe dich gewarnt, Köchlein", sagte Wolf Larsen, „und jetzt hilft dir nichts mehr, jetzt kriegst du deine Medizin."
Mugridge wurde kreideweiß unter der Rußschicht, und als Wolf Larsen nach einem Tau und ein paar Mann rief, schoß der verzweifelte Cockney in wilder Flucht aus der Kombüse, machte weite Sätze über das Deck und duckte sich, um der Verfolgung der grinsenden Mannschaft zu entgehen. Der hätte kaum etwas größeres Vergnügen machen können, als ihn ein bißchen ins Schlepptau zu nehmen, denn was er der Mannschaft an Essen und Trinken vorgesetzt hatte, war einfach scheußlich gewesen. Auch die äußeren Verhältnisse begünstigten das Unternehmen. Die Ghost glitt mit nur drei Meilen Fahrt durch das Wasser, und die See war ziemlich ruhig. Aber Mugridge verspürte nur geringe Neigung, untergetaucht zu werden. Höchstwahrscheinlich hatte er schon früher mitgemacht, wie Leute ins Schlepptau genommen wurden. Zudem war das Wasser furchtbar kalt, und er war alles andere als abgehärtet.
Wie gewöhnlich, wenn Aussicht auf eine Belustigung war, kamen die andere Wache und die Jäger СКАЧАТЬ