Название: Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren
Автор: Steffen Stern
Издательство: Bookwire
Серия: Praxis der Strafverteidigung
isbn: 9783811436589
isbn:
cc) Entgegenstehende Umstände
224
Zugunsten des Angeklagten ist zu berücksichtigen, dass er nach seiner Festnahme sofort geständig war und sich die Beweiswürdigung maßgeblich auf die Geständnisse stützen konnte, auch wenn der Angeklagte sie später widerrufen hat[66]. Zur Begründung der besonderen Schuldschwere darf nicht herangezogen werden, dass der Angeklagte geschwiegen und keine Reue gezeigt[67] oder die Tat abgeschwächt und fälschlich ein Tötungsverlangen des Opfers behauptet habe[68]. Der BGH hat allerdings die Feststellung besonderer Schuldschwere in Bezug auf eine 35-jährige Arzthelferin bestätigt, die ihren schlafenden Ehemann im Bett erstochen und zu ihrer Verteidigung behauptet hatte, ihre eigene, damals 12-jährige Tochter habe schlafwandelnd den Vater getötet. Mit dieser unwahren Schuldzuweisung, mit der sie dauerhafte seelische Folgen für ihre Tochter in Kauf genommen hatte, hatte die Angeklagte die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens überschritten[69].
225
Im Rahmen des § 57a StGB ist auch das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB zu beachten. Unzulässig ist etwa die Erwägung, der kaltblütig agierende Angeklagte habe sich vor und während der Tatausführung nicht aus der Ruhe bringen lassen. Damit wird nachteilig berücksichtigt, dass die Tat überhaupt durchgeführt worden ist, anstatt den Tatplan aufzugeben. Die Feststellung der besonderen Schuldschwere kann tragfähig mit der Erwägung abgelehnt werden, dass der Angeklagte seinen Tatgenossen intellektuell unterlegen, nicht Motor und Verursacher des Mordkomplotts war und von selbst nicht auf die Idee der Tötung gekommen wäre[70]. Neben den in § 46 StGB genannten Parametern kann im Einzelfall der Schuldschwerefeststellung das fortgeschrittene Alter des Angeklagten (von 64 Jahren) entgegenstehen[71], aber auch, dass der Angeklagte in der seit der Tat verstrichenen Zeit (von 22 Jahren) ein sozial unauffälliges Leben geführt hat[72], oder dass, wie beim „Kannibalen von Rotenburg“, die Tötung mit Einverständnis des Opfers erfolgt war[73].
226
Das Vorliegen verminderter Schuldfähigkeit schließt zwar die Annahme besonders schwerer Schuld nicht von vornherein aus[74]. Eine im Urteil des SchwurG festgestellte alkohol- und affektbedingte tiefgreifende Bewusstseinsstörung des Verurteilten im Tatzeitpunkt ist jedoch in die Bewertung der besonderen Schwere der Schuld auch dann einzubeziehen, wenn das SchwurG bei einer Schuldbewertung eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit i.S.d. § 21 StGB verneint hat[75].
b) Gesamtstrafe
227
Bei der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe sind nach § 57b StGB Anknüpfungspunkt für die Schuldschwereprüfung regelmäßig sämtliche der Gesamtstrafe zugrunde liegenden Taten[76]. Dabei sind allerdings mitabgeurteilte Straftaten unbeachtlich, die der leichten Kriminalität zuzurechnen sind[77]. Ein enger zeitlicher, örtlicher, situativer und motivatorischer Zusammenhang der einzelnen Straftaten kann der Annahme besonderer Schuldschwere entgegenstehen[78].
c) Härteausgleich für erledigte ursprünglich gesamtstrafenfähige Vorstrafen
228
Bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe ist ein Härteausgleich für erledigte, an sich gesamtstrafenfähige Vorstrafen im Wege der Vollstreckungslösung zu gewähren. Das kann dazu führen, die besondere Schwere der Schuld zu verneinen oder den als vollstreckt geltenden Teil der Strafe auf die Mindestverbüßungsdauer i.S.d. § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB anzurechnen[79].
d) Beurteilungsspielraum
229
Bei der Frage der besonderen Schuldschwere ist dem Tatrichter ein Bewertungsspielraum eingeräumt[80]. Dem Revisionsgericht ist bei der Nachprüfung der tatgerichtlichen Wertung eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle verwehrt. Es hat sich auf die Prüfung zu beschränken, ob das Tatgericht alle maßgeblichen Umstände berücksichtigt und rechtsfehlerfrei abgewogen hat; es ist aber gehindert, die Wertung des Tatgerichts durch seine eigene Wertung zu ersetzen[81].
e) Verteidigungsanstrengungen zur Frage der Schuldschwere
230
Neuerdings gewinnt man den Eindruck, dass die Verhängung eines „einfachen“ Lebenslänglich zum Ausnahmefall geworden ist. Kaum ein spektakuläres Mordverfahren, in dem nicht die StA den Ausspruch der besonderen Schuldschwere verlangt und das Gericht dem auch nachkommt. Eine Verurteilung wegen Mordes ohne die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gilt als „Lebenslänglich 2. Klasse“; erst die Schuldschwerefeststellung scheint die Bezeichnung als „echtes“ Lebenslänglich zu rechtfertigen[82]. Die Gerichte können dem öffentlichen Druck, der auch vonseiten der verstärkt mitwirkenden Nebenklage kommt, kaum standhalten. Die konturenlose Gesetzesfassung des § 57a StGB und der durch den BGH anerkannte Beurteilungsspielraum macht es den Gerichten allerdings auch leicht, ohne sonderliche Gewissensbisse oder gar ein erhöhtes Revisionsrisiko der Erwartung der Medien oder der Öffentlichkeit nachzugeben. Die Verteidigung sollte bemüht sein, auch auf der medialen Seite ein Gegengewicht zu schaffen. Öffentliche Erklärungen sollten genutzt werden, die Diskussion um die besondere Schuldschwere durch Darstellung aller rechtlichen Voraussetzungen und Barrieren zu versachlichen.
231
Steht die Verurteilung zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe im Raum, sind im Regelfall Ausführungen zur Frage der besonderen Schuldschwere im Schlussvortrag unerlässlich. Alle entlastenden Umstände können Gewicht erlangen, die auch – die absolute Strafandrohung hinweggedacht – gem. § 46 StGB zur Reduzierung einer zeitigen Strafe beitragen könnten. Aber bereits im Vorfeld, etwa bei der Beratung des Mandanten bezüglich der Einlassung, ist sorgfältig zu prüfen, ob mit Blick auf § 57a StGB besonderer Erklärungs- oder Nachermittlungsbedarf besteht. Auch an eine nach § 257c Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StPO wohl zulässige[83] Verständigung über die Frage der besonderen Schwere der Schuld ist in geeigneten Fällen zu denken.
f) Isolierte Anfechtbarkeit der Schuldschwerefeststellung
232
Scheitern die Bemühungen der Verteidigung, empfiehlt es sich, etwaige Mängel in der Gewichtung der Schuldschwere im Wege der Revision mit der Sachrüge anzugreifen. Es ist zulässig, die Revision gegen ein Urteil, durch das der Angeklagte zu lebenslanger Freiheitsstrafe СКАЧАТЬ