Название: Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren
Автор: Steffen Stern
Издательство: Bookwire
Серия: Praxis der Strafverteidigung
isbn: 9783811436589
isbn:
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Das BVerfG hatte in seinem richtungweisenden Urteil zur Lebenszeitstrafe vom 21.06.1977[24] das Gebot menschenwürdigen Strafvollzuges und die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Verpflichtung hervorgehoben, dem lebenslänglich Verurteilten die Chance auf Rückkehr in die Freiheit zu erhalten. Die Verfassungshüter erlegten dem Gesetzgeber auf, die Voraussetzungen einer Vollstreckungsaussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe sowie das insoweit anzuwendende Verfahren zu normieren. Bis dahin war der Verurteilte auf den Gnadenweg beschränkt, der unabhängig von der Aussetzungsmöglichkeit gem. §§ 57, 57a StGB nach wie vor beschritten werden kann. Bei gnadenweiser Aussetzung wurde früher üblicherweise die lebenslange Haftstrafe – unter Aussetzung des Strafrestes – in eine zeitige Freiheitsstrafe umgewandelt[25]. § 57a StGB kennt diese Umwandlungslösung nicht. Ausgesetzt wird vielmehr der gesamte, nur durch das Lebensende begrenzte Strafrest[26].
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Nicht nur an Stammtischen wird seitdem der Irrglaube kolportiert, „Lebenslängliche“ kämen in Deutschland praktisch automatisch nach 15 Jahren frei[27]. Wahr ist hingegen, dass, obwohl über die tatsächliche Verbüßungsdauer bei lebenslanger Freiheitsstrafe keine offizielle Statistik existiert[28], zuverlässigen Quellen zufolge Lebenslängliche in Deutschland im statistischen Durchschnitt erst nach rund 20 Jahren (bedingt) entlassen werden[29] und damit einen unrühmlichen europäischen Spitzenrang einnehmen. Es sind in Einzelfällen drakonische Mindestverbüßungszeiten von 25, 30 oder 40 bis hin zu 50 Jahren festgelegt worden. Bemerkenswerterweise hat die damalige Gesetzesnovellierung im Vergleich zur Gnadenpraxis zu einer Verlängerung der Verbüßungsdauer geführt[30]. Dem BVerfG lagen jedenfalls schon Verfassungsbeschwerden mit Vollstreckungszeiten von mehr als 30[31] oder sogar 35[32] Jahren vor. Das OLG Hamm hatte über eine Zeitspanne von 40 Jahren für einen NS-Mörder zu entscheiden[33]. Einer Studie des KrimZ[34] zufolge hatte ein Lebenslänglicher beinahe 50 Jahre im Strafvollzug verbracht, als er 2008 im Alter von 71 Jahren verstarb. Ein weiterer verstarb im Alter von 87 Jahren nach einer Vollzugsdauer von 48 Jahren.
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Von 91 Strafgefangenen, deren lebenslange Freiheitsstrafe im Jahr 2008 beendet wurde, wurden 63 nach Aussetzung des Strafrestes gem. § 57a StGB bedingt in Freiheit entlassen. Dies entsprach einem Anteil von 3,2 % der am Stichtag 31. März 2008 einsitzenden Gefangenen mit lebenslanger Strafe. Weitere 16 ehemalige Gefangene wurden aus Deutschland ausgewiesen oder sonst ausländischen Behörden überstellt, zehn verstarben im Vollzug, darunter begingen zwei Suizid. Die Hälfte der 2008 aus dem Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe Entlassenen hatte mehr als 16 Jahre verbüßt. Durchschnittlich waren diese Gefangenen 18 Jahre im Justizvollzug. Bei den Entlassenen handelte es sich weit überwiegend um Männer im Lebensalter von durchschnittlich 49 Jahren, die wegen Tötungsdelikten verurteilt worden waren; sie besaßen fast alle die deutsche Staatsangehörigkeit. Die genannten Unterbringungszeiten betreffen allerdings nur die damals tatsächlich Entlassenen. Für weiterhin inhaftierte, zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte, gab es keine statistischen Angaben über deren bisherige Verbüßungsdauer[35].
4. Feststellungspflicht zur Schuldschwere im Erkenntnisverfahren
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Die Feststellung der „besonderen Schwere der Schuld“ nach § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB hat der Grundsatzentscheidung des BVerfG v. 03.06.1992 zufolge bereits das erkennende Gericht[36] im Urteilsspruch zu treffen, und zwar, so der BGH in seiner richtungweisenden Entscheidung vom 21.01.1993[37], sowohl im Urteilstenor als auch in den Gründen. Das gilt nicht nur bei vollendetem Mord, sondern immer dann, wenn lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wird, gleichgültig aufgrund welchen Tatbestands. Erfasst werden also auch Fälle des versuchten Mordes (ohne Strafmilderung gem. §§ 21, 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB[38]) oder des Totschlags im besonders schweren Fall gem. § 212 Abs. 2 StGB[39]. Unterbleibt künftig die Erwähnung der besonderen Schuldschwere im Urteilstenor, gilt dies als Nichtausspruch; die Feststellung besonderer Schuldschwere nur in den Urteilsgründen genügt nicht. Eine Ergänzung des Tenors nach abgeschlossener Urteilsverkündung ist nicht zulässig. Wird die Schuldschwere in den Gründen abgelehnt, bedarf es keines negatorischen Ausspruchs in der Urteilsformel[40]. Allerdings hat sich der Tatrichter, also regelmäßig das SchwurG, auf die Feststellung der Schuldschwere und ihres Ausmaßes zu beschränken. Die konkrete Zeitspanne, die der Verurteilte über 15 Jahre hinaus im Mindestmaß verbüßen sollte, bestimmt es nicht. Es hat sich über die Schuldschwerefeststellung hinaus jeder Äußerung zur Mindestverbüßungsdauer zu enthalten[41].
aa) Gesamtwürdigung von Täterpersönlichkeit und Tatgeschehen
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Die Feststellung besonderer Schuldschwere i.S.v. § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass das gesamte Tatbild einschließlich der Täterpersönlichkeit von den erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Mordfällen so sehr abweicht, dass eine Strafaussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach 15 Jahren auch bei günstiger Täterprognose unangemessen wäre[42]. Dies hat der Tatrichter im Rahmen des Erkenntnisverfahrens ohne Bindung an begriffliche Vorgaben im Wege einer zusammenfassenden Würdigung von Tat und Täterpersönlichkeit zu treffen, wobei ein Bejahen nur möglich ist, wenn Umstände von Gewicht vorliegen. Dabei kommt es auf ein bloßes Zusammenzählen von Mordmerkmalen nicht an[43]. Insbesondere darf das Gericht nicht von einem falschen Regel-Ausnahme-Verhältnis ausgehen und die besondere Schuldschwere mit dem Hinweis aussprechen, dass keine hinreichenden Gründe dafür ersichtlich seien, von der Feststellung der besonderen Schuldschwere abzusehen. Mord wird im Regelfall „nur“ mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet; die besondere Schwere der Schuld ist darüber hinaus nur „ausnahmsweise“ zu bejahen, soweit bei der erforderlichen Gesamtwürdigung von Täterpersönlichkeit und Tat hierfür sprechende Umstände von Gewicht festgestellt werden[44].
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Für die Gewichtung der Schuldschwere i.S.d. § 57a StGB gelten die gleichen Regeln wie für die Bemessung der Strafzumessungsschuld i.S.d. § 46 StGB. Auch für die Gewichtung der Strafzumessungsschuld, die Grundlage auch der Schuldschwerebeurteilung nach § 57a StGB ist, gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“ uneingeschränkt. Deshalb dürfen Erörterungen zur besonderen Schuldschwere nicht auf bloßen Vermutungen beruhen, wie etwa der, dass der Angeklagte einen bestimmten „Eindruck“ über seine Sichtweise der Tatvorwürfe vermittelt habe[45].
bb) Schulderschwerende Umstände
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Ausschlaggebend für die Feststellung der besonderen Schuldschwere können sein: einschlägige Vorstrafen[46], eine besonders verwerfliche Gesinnung[47] oder das Zusammentreffen mehrerer Mordmerkmale[48], wobei das Zusammentreffen zweier Mordmerkmale nicht schematisch zur Bejahung der besonderen Schuldschwere führt, sondern nur dann, wenn das weitere Merkmal im konkreten Fall schulderhöhende Umstände aufzeigt. Einem weiteren Mordmerkmal ist kein wesentliches Gewicht beizumessen, wenn es den Unrechts- und Schuldumfang nicht erweitert[49]. Die besondere Schuldschwere kommt, je nach Lage des Einzelfalls, zum Beispiel in Betracht beim Zusammentreffen von Heimtücke und niedrigen Beweggründen[50], bei Habgier und dem Mordmerkmal des Ermöglichens einer Straftat[51], Habgier und Heimtücke[52]sowie bei besonders brutalem Vorgehen[53].
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Nichts anderes gilt für eine Mehrzahl von Mordopfern oder СКАЧАТЬ