Название: Klausurenkurs im Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrecht
Автор: Christoph Herrmann
Издательство: Bookwire
Серия: Schwerpunkte Klausurenkurs
isbn: 9783811484481
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Die weiteren 15 Klausurfälle beruhen teils auf Leitentscheidungen bzw. aktueller Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (GHEU) sowie auf Reports von WTO-Panels bzw. des Appellate Body. So behandelt etwa Fall 10 („Gerichtshof vs. Schiedsgericht“) sowohl diejenigen Rechtsfragen, die sich dem Gerichtshof in der Rechtssache Achmea stellten, als auch diejenigen, die sich ihm in der derzeit noch anhängigen Rechtssache Micula stellen. Dagegen sind in Fall 12 („21st Century Agreements“) die Ausführungen des Gerichtshofs im Gutachten 2/15 klausurtechnisch aufbereitet. Insgesamt weisen die Fälle 2 bis 13 einen Schwerpunkt im „Europäischen Wirtschaftsrecht“ auf, während der Fokus der Fälle 14 bis 16 eher auf dem „Internationalen Wirtschaftsrecht“ liegt.
Die einzelnen Sachverhaltskonstellationen sind generell dergestalt konzipiert, dass stets verschiedene Teilgebiete des Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrechts miteinander kombiniert und verzahnt sind, um die Vielschichtigkeit und den möglicherweise nicht auf den ersten Blick ersichtlichen, aber doch zahlreich vorhandenen Berührungspunkten des Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrechts Rechnung zu tragen.
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Darüber hinaus sehen die 16 Falleinheiten für die Fallbearbeitung jeweils eine dreigliedrige Vorgehensweise vor: (1) Im ersten Schritt sollen Studierende zunächst die Fallangabe bzw. den Sachverhalt lesen und erste Lösungsüberlegungen skizzieren; (2) im Anschluss werden sogenannte Vorüberlegungen einschließlich einer Grobgliederung des Lösungsvorschlags zur Verfügung gestellt, die hinsichtlich der Schwerpunktsetzung und etwaigen Strukturierungsfragen im Zusammenhang mit der Erstellung einer eigenen Lösungsskizze unterstützen; (3) sodann folgt ein ausführlicher Lösungsvorschlag, der allerdings nicht als vollständige Falllösung zu verstehen ist, sondern eine Hilfestellung für die Nachbearbeitung darstellen soll. Der Lösungsvorschlag enthält zudem zum einen im Rahmen von zahlreichen Hinweiskästen zusätzliche inhaltliche Vertiefungs- und Hintergrundinformationen, zum anderen am Ende umfassende Literaturempfehlungen zur Wiederholung und Vertiefung. Die Hinweiskästen versuchen vor allem weiterführende Fragen, die sich Studierenden bei der Nachbearbeitung des Lösungsvorschlags möglicherweise aufdrängen, zu antizipieren und diese entsprechend zu beantworten. Abgerundet wird der 2. Teil des Klausurenkurses durch eine Sammlung von insgesamt 100 Lernkontrollfragen, die die Möglichkeit zur Reflexion der zentralen Rechtsfragen der einzelnen Klausurfälle geben.
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Der Klausurenkurs ist auf dem Stand von Dezember 2018 und legt der Fallbearbeitung insbesondere die Verträge, d.h. den Vertrag über die Europäische Union (EUV) sowie den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), in der Fassung des Vertrags von Lissabon (in Kraft getreten am 1.12.2009) sowie die WTO-Verträge, insbesondere das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) in der Fassung des Marrakesch-Abkommens (unterzeichnet am 15.4.1994) zugrunde. Darüber hinaus ist teilweise die Heranziehung weiterer internationaler Verträge, beispielsweise des Vertrages über die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), erforderlich, die allerdings in den gängigen Text- und Gesetzessammlungen abgedruckt sind.
A. Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union
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Der Rechtsbegriff der Verfassung meint grundsätzlich eine rechtliche Grundordnung eines Gemeinwesens, die aus formaler Sicht Verfahren zur Bewältigung von politischen Konflikten, insbesondere durch einen geregelten Staatsaufbau, vorgibt und darüber hinaus materiell-rechtliche Leitprinzipien grundrechtlicher oder struktureller Art enthält. Damit wohnt einer Verfassung eine sowohl einheits- als auch identitätsstiftende Wirkung für die legitimierte Hoheitsgewalt sowie das Gemeinwesen inne, wodurch die Verfassung als an sich rechtliche Materie (zumindest teilweise) politisiert wird. Als (rechtspolitische) Grundlage des Gemeinwesens ist eine Verfassung grundsätzlich nur unter erschwerten Voraussetzungen abänderbar, weist aufgrund der niedergelegten, naturgemäß abstrakten Prinzipien allerdings eine Offenheit auf, die ihre Bestandskraft maßgeblich erhöht. Wenngleich damit nicht der verfassungsrechtliche Anspruch auf Vollständigkeit einhergeht, deckt die Verfassung wesentliche Bereiche des Gemeinwesens ab, u.a. das Wirtschaftsleben, für dessen Ordnung sie mitunter eine politische Gesamtentscheidung, etwa in Bezug auf das Wirtschaftssystem, trifft und grundlegende Gestaltungselemente einführt. In modernen Verfassungen steht dabei insbesondere die wirtschaftliche Freiheit des Individuums im Spannungsverhältnis zu sozialstaatlichen und sonstigen regulativen Politiken.
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Historisch bedingt – insbesondere durch das seit dem Ende des 30-jährigen Krieges 1648 vorherrschende Westfälische System – ist der Verfassungsbegriff zwar staatsbezogen, wurde im Rahmen der europäischen Integration vom Gerichtshof allerdings bereits zur Charakterisierung der Unionsverträge (damals EWG-Vertrag) („Verfassungsurkunde“) herangezogen.[1] Jedenfalls spricht man bezüglich der von den Unionsverträgen geschaffenen Rechtsordnung grundsätzlich eher von einer Rechtsordnung sui generis,[2] deren Rechtsqualität sich von der Qualität des völkerrechtlichen Gründungsaktes gelöst hat und die aufgrund ihrer unmittelbaren Wirkung sowie des Vorrangs eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“[3] darstellt (siehe Fall 1, Rn. 108).[4]
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Nichtsdestotrotz erfüllt diese „neue Rechtsordnung“ wesentliche Verfassungsfunktionen, etwa die Organisation und Legitimation von Herrschaftsgewalt (vgl. etwa die allgemeinen Kompetenzordnungsprinzipien des Art. 5 EUV oder die Vorschriften zum ordentlichen und besonderen Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 289 ff. AEUV), und enthält zudem grundlegende materiell-rechtliche Verfassungselemente, etwa die Grundfreiheiten (vgl. Art. 28 ff. AEUV, Art. 45 ff. AEUV, Art. 49 ff. AEUV, Art. 56 ff. AEUV sowie Art. 63 ff. AEUV) und die Grundrechte (vgl. die Grundrechtecharta (GRCh), die gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV rechtlich gleichrangig zum AEUV und EUV ist).
I. Das wirtschaftsverfassungsrechtliche Leitbild
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Das wirtschaftsverfassungsrechtliche Leitbild der Unionsverträge, d.h. des EUV sowie des AEUV einschließlich der GRCh, ist gemäß Art. 119 Abs. 1, 2, Art. 120 S. 2 AEUV durch den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ bestimmt, die gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV auch ein soziales Element enthält („wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“). Dieses Bekenntnis zu einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung als objektiv-rechtliche Grundentscheidung findet Entfaltung in speziellen subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen, die ebenfalls das Wesen der unionalen Rechtsordnung maßgeblich prägen, etwa im Rahmen des Kartellrechts, dem das Idealbild eines Wettbewerbs zugrunde liegt, in dem Unternehmen eigenständig und selbstbestimmt am Markt agieren (siehe Fall 11, Rn. 662).[5]
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Wirtschaftsintegrationsrechtliche Grundlage der unionalen Rechtsordnung ist die Errichtung einer Zollunion (vgl. Art. 28 ff. AEUV i.V.m. Art. 3 Abs. 1 lit. a AEUV), die um binnenmarkt- und wettbewerbsrechtliche Elemente erweitert (vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV und Art. 101 ff. AEUV) und (zumindest in Teilen) zu einer Währungsunion weiterentwickelt worden ist (vgl. Art. 127 ff. AEUV) (siehe Fall 1, Rn. 74 ff.). Die offen marktwirtschaftliche Ausrichtung der Unionsverträge wird allerdings durch die Anerkennung nicht-wirtschaftlicher Allgemeininteressen, etwa die Querschnittsmaterien Umwelt- und Verbraucherschutz (vgl. Art. 11, 12 AEUV) oder die Grundrechte der GRCh, relativiert, die u.a. den Mitgliedstaaten regulative Gestaltungsspielräume verschaffen, die insbesondere in den geschriebenen (vgl. Art. СКАЧАТЬ