Название: Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte - Band 2
Автор: Frank Hille
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783737542913
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„Ich bin allein, sozusagen ganz allein, in einem Kinderheim aufgewachsen, meine Eltern habe ich nie richtig kennengelernt und ob ich noch andere Verwandte habe weiß ich nicht, es interessiert mich auch nicht.“
Er schwieg auf ihre Antwort und sie wusste, dass er jetzt betont vorsichtig mit ihr umgehen würde, weil er sich sicher ausmalte, wie ihr Leben bis jetzt verlaufen war. In Gedanken achtete sie nicht auf den Weg und trat auf eine Wurzel, im selben Moment ging sie vor Schmerz zu Boden, Bernd war sofort bei ihr.
„Ist was passiert“ fragte er besorgt.
„Ich habe mir wahrscheinlich den Fuß vertreten“ sagte sie bleich.
„Warte, erst muss der Schuh herunter bevor der Fuß dick wird“ sagte er entschlossen und zog ihr den Wanderschuh aus und tastete den Fuß ab.
„Hm, nichts Ernstes, das ist eine eins a Zerrung, das kenne ich vom Sport. Du wirst jetzt keine zehn Meter mehr laufen können, jedenfalls in den nächsten Stunden nicht.“
„Was machen wir jetzt, wir sind hier weit weg vom Schuss.“
„Es gibt nur eine Lösung, wir sind vielleicht zwei Kilometer von der Gaststätte entfernt. Ich werde dich tragen, etwas anderes bleibt und nicht übrig. Kuck nicht so komisch, es gibt keine andere Möglichkeit. Natürlich kann ich dorthin gehen und die Bergwacht alarmieren, die würden uns aber auslachen und mächtig sauer sein, dass wir sie wegen so einer Lappalie rufen.“
„Ich versuche mich auf dich zu stützen, vielleicht geht’s es auch so.“
„Glaube ich nicht, aber bitte, probier‘s.“
Er hatte Recht, schließlich ließ sie es zu, dass er sie anhob, das passierte scheinbar mühelos und während er sie trug sagte er ohne außer Atem zu kommen:
„Das dürften so knapp sechzig Kilo sein, stimmt‘s?“
„Gut geschätzt“ erwiderte sie „achtundfünfzig, geht das mit dem Tragen?“
„Klar, ich habe früher ein bisschen Gewichtheben gemacht, da hab ich andere Lasten bewegt.“
Nach einigen hundert Metern setzte er sie vorsichtig ab, sie trat vorsichtig auf aber der Schmerz kam sofort wieder, er nahm sie wieder hoch und als sie die nächste Biegung erreichten sahen sie die Gaststätte, sie war noch ungefähr dreihundert Meter entfernt. Er verschnaufte kurz, dann legten sie die letzten Meter zurück und die Gäste die im Biergarten saßen starrten sie ungläubig an. Er ließ sie vorsichtig auf einem Stuhl nieder und ging sofort in die Gaststube, wenig später kam er zurück.
„Der Wirt ruft uns ein Taxi wenn wir uns etwas erholt haben, ich trinke jetzt erst einmal ein Bier und Hunger habe ich auch.“
Er zeigte keinerlei Anzeichen von Erschöpfung und bestellte sich ein Schnitzel, sie nahm ein Bauernfrühstück. Das Essen kam dampfend auf den Tisch und war schmackhaft, aus den Augenwinkeln sah sie, wie er kräftig zulangte und jetzt musterte sie ihn gründlicher. Dass der Mann sie über die recht weite Strecke scheinbar mühelos getragen hatte war erstaunlich, doch seine Statur sprach dafür, dass er sehr kräftig war. Sein offenes Gesicht zeigte erste Falten um die Augen herum als auch auf der Stirn und die runde Brille gab ihm einen intellektuellen Anstrich, der durch die schon spärlich werdenden Haare noch verstärkt wurde. Irgendwie strahlte er Ruhe aus und sie konnte sich gut vorstellen, dass er auch in brenzligen Situationen die Nerven behalten würde, er schien ähnlich wie sie überlegt an die Dinge heranzugehen.
„Ich danke dir“ sagte sie „wenn ich allein unterwegs gewesen wäre hätte ich ein Problem gehabt.“
„Ach i wo. Dort kommen immer Leute vorbei und die hätten dir sicher geholfen, morgen werde ich wohl Muskelkater haben obwohl du ja eigentlich leicht bist aber man kommt schnell aus der Form wenn man mit dem Training nicht dranbleibt. Das mit dem Gewichtheben musste ich aufgeben weil dieser Sport sehr auf die Knie geht und ich hätte es ohnehin nicht weit gebracht. Jetzt laufe ich ab und zu noch ein bisschen aber nur hobbymäßig, wenn man den ganzen Tag sitzt muss man einfach was tun. Ich lasse jetzt das Taxi rufen, dann bringe ich dich noch nach Hause und ich schaue morgen Vormittag noch mal bei dir vorbei ob du eventuell noch Hilfe brauchst. Telefon habe ich keins.“
In der Stadt half er ihr noch die Treppen hoch, machte ihr einen kalten Umschlag, kochte Tee, dann fragte er danach was sie im Keller hätte, ließ sich den Schlüssel geben und kam nach einer Weile mit einer improvisierten Krücke wieder, so dass sie sich wenigstens etwas in der Wohnung bewegen konnte. Kurz darauf ging er und als die Tür zuschlug wünschte sie sich, dass er da geblieben wäre.
Die Entscheidung, Berlin, 1982
So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt, der cholerische Mann brüllte wie enthemmt.
„Blöd, und noch eine Schlampe dazu, bist du denn verrückt geworden? Was erlaubst du dir? Warum hast du denn nicht aufgepasst?“
Hanna Becker stand vor ihrem Vater, ihre Mutter saß auf dem Sofa und weinte leise, sie selbst schaute den tobenden Mann ungerührt an.
„Was geht das dich denn an“ sagte sie emotionslos.
„Was mich das angeht, schließlich bin ich dein Vater, hier bestimme immer noch ich solange du deine Füße unter meinen Tisch steckst, verstanden?“
„Nicht mehr lange“ antwortete das Mädchen ruhig „mein Freund war beim Rat des Stadtbezirks, wir können eine unsanierte Wohnung bekommen. Er verdient Geld als Kraftfahrer und ich fange in drei Wochen als Küchenhilfe an, ich brauche deine Hilfe nicht mehr.“
„Da hast du es ja weit gebracht“ schrie Peter Becker seine Tochter an „als Küchenhilfe, da wirst du deine Familie ja ganz hervorragend ernähren können.“
„Das lass mal meine Sorge sein, du musst mich nur noch kurze Zeit ertragen, dann verschwinde ich aus deinem Leben. Nicht aus dem Leben meiner Mutter, die hat immer zu mir gestanden, aber du hast mich nur getriezt. Vielleicht hast du mehr Freude an Dieter, der wird ja mal groß rauskommen, auf den kannst du dann stolz sein.“
Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum und gleich darauf die Wohnung, sie würde heute bei Frank übernachten. Auf der Straße überfiel sie ein Gefühl der Verlassenheit aber es stahl sich auch Hoffnung in ihre Gedanken. Frank hatte ihr sofort zugestimmt, dass sie das Kind bekommen sollte. Als ihre Regel ausblieb hatte sie zuerst mit ihrer Mutter geredet, die hatte ihr zu bedenken gegeben, dass sie noch sehr jung wäre und möglicherweise mit der Erziehung des Kindes nicht zurecht kommen könnte, sie hätte auch später noch alle Zeit der Welt dafür. Hanna fühlte sich selbst noch wie ein halbes Kind aber es war vor allem der Trotz ihrem Vater gegenüber, sich nicht auf die Vernunftgründe ihrer Mutter einzulassen. Diesmal würde sie ganz allein entscheiden und sie war fest entschlossen, sich von ihrer Entscheidung von nichts und niemandem mehr abbringen zu lassen. Wie sie aber ihren Lebensunterhalt sichern sollte wusste sie noch nicht, die Arbeit als Küchenhilfe würde sicher nicht viel einbringen.