СКАЧАТЬ
Das tut man nicht. Das Rascheln vertreibt nämlich die Vornehmheit. Das Rascheln wirkt zerstörend und zersetzt die Feinheit. Und das Rascheln verjagt Gedanken und könnte das Schweinsleder angreifen, das kann man alles nicht wissen. Das Rascheln könnte die Bügelfalten beleidigen. Außerdem ist das Rascheln proletisch. Bloß nicht wieder rascheln. „Deutscher in der Zelle vergessen!“ „Staatspräsident von Togo ermordet!“ „Genossen unter sich!“ „Sie starb durch einen Brieföffner!“ „Europas riesige Eiszapfen!“ Vorsichtig wieder zusammenfalten, die Zeitung, ja, ja, vorsichtig. Die Schweinslederne rührt sich nicht. Die Bügelfalten zittern nicht. Keine Blickpfeile schwirren. Gut gemacht, alter Knabe, wirst langsam vornehm. Dass ihm nun, nachdem die Zeitungsgeschichte einigermaßen klar gelaufen war, die Blase drückte, das war äußerst unangenehm und auch sicher nicht vornehm. Verfluchter Mist war das nun auch wieder. Die Vornehmen müssen nie, komisch ist das auch. Die sitzen und sitzen und scheinen auf dem Gebiet überhaupt keine Gefühle zu haben. Die sitzen, und er muss - und nötig, so nötig. Kommt von dem verdammten Bier im Wartesaal der unteren Klasse. Er kniff die Beine zusammen und schlug sie - und das ganz sachte, behutsam und geräuschlos - übereinander. Nur die Bügelfalten nicht berühren, bloß das nicht. Er meinte die Bügelfalten gegenüber, Meiler hatte ja keine. So ist das aber auch, wenn man keine Bügelfalten hat, kann man auch nicht vornehm sein, und wenn man Bügelfalten hat, drückt einem auch sicher nicht die Blase. Das wird nächstens anders. Ganz bestimmt. Aber Meiler muss trotzdem, muss nötig. Verfluchter Mist! Schob sich an den Bügelfalten vorbei. Tür ganz leise zur Seite rollen, damit die Schweinslederne nicht aufsieht und tastete sich durch den schaukelnden Gang dahin, wo dransteht: WC. Für Herren und auch für Damen. Hier müsste die Schweinslederne auch hin, wenn sie müsste, und die Bügelfalten auch, wenn sie müssten. Das ist man gut, gibt es doch hier wenigstens keine Klasseneinteilung. Nicht mal eine Trennung der Geschlechter. Aber müssen die überhaupt? Wahr ist das aber auch, zuerst zerstörte er die vornehme Luft mit seinen Koffern, dann raschelte er mit der Zeitung „Sie starb durch einen Brieföffner!“ Und zuletzt drückte auch noch die Blase. Nein, nein, aus Meiler wird wohl nie ein feiner Mann werden. Im Gang, an der Tür zur Einsamkeit und des Wasserfalls stand ein Mädchen und wartete darauf, dass die grausamen schwarzen Buchstaben: BESETZT im Messingfutteral verschwinden... so mit klack. Das Mädchen musste auch. Ist es nun vornehm, zu warten, dass jeder Mann und jede Frau und er sehen, dass das Mädchen muss? Ist es vornehm, zu warten, um die Müssenden an sich vorbeidrängen zu lassen, Auge in Auge fast, um sich selbst dann in Klausur zu begeben? Meiler stellte sich in den mannshohen Ziehharmonikabalg, der immer balgt, stets Wind hat und fortwährend Musik macht, und kam sich vor wie in der Reichsmark-Zeit... Schlangestehen mit Muttern. Klack. BESETZT fällt in den Messingkeller und FREI weist auf eine Erlösung. Eine Dame duftet vorbei. Der Nächste... nein, die Nächste. Meiler ist noch nicht dran. Die Duftende hätte er doch nicht so ansehen dürfen. Klack. BESETZT. Wieso besetzt? Dann müsste es ja eigentlich noch ein Schild geben, für Männer: BESTEHT. Ach nein, das kann auch besetzt heißen, es kommt ganz drauf an. Meiler stand und trat von einem Bein auf das andere. Der Balg der Ziehharmonika schwabbelte hin und her, und die rollenden Räder schlugen stoßenden Takt. Klack. FREI. Die Schlangesteherin schämte sich vorbei. Die Schlangesteherin hätte er auch nicht so ansehen dürfen. Die Brille war noch warm, er fühlte es, als er sie anhob. Schade, dass er sich nicht zu setzen brauchte. Pisste und ließ dann Wasser in das Waschbecken. Mögen weitere Müsser und Müsserinnen draußen warten, keine Rücksicht, er musste es auch, als er musste. Eine warme Brille hinterließ er nicht. Behandelte den Seifenspender nach Vorschrift: Die Klappe einmal rechts herum, und wie aus einer Pfeffermühle der Pfeffer raspelt, so auch die gekörnte Seife. Duftet gut. Schöner Schaum. Papierhandtuch mit DB eingeblaut, kreppig, griffig. Verdammt, doch ein Genuss, so auf der Gangway der Vornehmheit zu balancieren. Ist die Gangway auch schmal und wackelig, Meiler hatte es gewagt. Ja, und diese Gangway führte ihn in den Speisewagen und er riskierte was: wagte sich flüsternd eine Flasche Bier zu bestellen. Die Kellner sind Grafen. Und die Speisewagengäste stinken auch alle nach Vornehmheit. Tranken Sachen, die er nie getrunken, aus Gläsern, die er nie sah. Hier wurden von Hornbrilligen und Maßanzügen Gespräche geführt, die er nie hörte. Von Transaktionen und Projekten, von Aktien und von Haussen und Baissen wurde geredet, aber Trinkgelder bekamen die Kellner nicht. Merkte er sich, Trinkgelder geben ist nicht vornehm. Vielleicht ist Trinkgeldgeben proletisch, weil es wohl so aussieht, als wolle man sich die Gunst der Grafen erkaufen. Merkte er sich, Trinkgeld geben ist nicht vornehm. Man soll den Grafen auch gar nicht erst ein Trinkgeld anbieten, sie könnten sich beleidigt fühlen.
Wieder ein Fernbahnhof. Umsteigeplatz. Die Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe schleppten sich von Gleis vier nach Gleis neun. Leichtfüßige Mädchen, hochgehackt, hochtoupiert. Junge Männer, röhrenhosig, cäsarenköpfig. Alte Ehepaare, reisewütig. Arbeiter, Angestellte, eilend, hastend. Heilsarmisten, singend, sammelnd. Bahnbeamte, wichtig tuend, von Fahrplänen und Fahrzeiten, Ankünften und Abfahrten redend. Am neonbewehrten Imbissstand aß Meiler eine Wurst, lauwarm, teuer.
Der nächste Zug, ein Eilzug, ratterte ihn der Küste näher. Warm gedeckte Bauernhäuser. Weiß gedeckte Wiesen. Lichternde Lichter. Weißbesprenkelte Hänge. Kleinstadtbahnhöfe. Dorfstationen. Wiesen und Knicks. Es waren nur vier ganze peoples und Meiler, die um Mitternacht am Endbahnhof aus dem Zuge krabbelten. Der Ost hatte auch hier an der Küste seine Messer geschliffen. Im Wartesaal war es warm und leer. Hier wartete Meiler auf ein Taxi. Der Bierhahn stammte aus dem vorigen Jahrhundert. Eine Biersäule blitzte blank und schnörkelte in grün-weißem Porzellan. War nur eine Attrappe, denn es gab Flaschenbier. Der Wirt sparte mit Licht und sah aus wie ein Hobbyist, Briefmarkensammler, Taubenzüchter oder so. Das Taxi kam. Der Fahrer roch nach Schnaps, er wurde durch Meiler in einer Geburtstagsfeier gestört. Die kleine Stadt schläft. Es schläft auch das Licht. Die Bürger liegen mit ihren Frauen in warmen Betten. Durch die Gassen schneidet der Ost. Da und dort ein Fensterlicht, blank oder hinter Gardinen. Ein krankes Kind? Ein Sterbender? Eine Liebesstunde? Wer weiß!
An der Bunkerstation lag das Schiff. Eine Eisburg. Decklast: Holz. Begossen und emailliert. Glasur des Winters. Eine gefährliche Glasur. Todesschlitten. Auf- und Niedergänge, Relinge, Verschanzungen trugen Eisbärte. Wanten, Antennen, Stagen, Drähte, Tampen, Reeps und Festmacher waren in Eis gepackt, als hätte man sie durch Zuckerguss gezogen. Gleißende, brennende Augen der Bogenlampen. Unheimlich glitzernde, funkelnde Eisburg Schiff. Von der Bunkerstation zum Schiff windet sich durch die Schneewatte eine tiefschwarze Schlauchschlange, eben atmend. Die Eisburg säuft das kalte Blut der Schlange. Vermummte Männer an Deck, fast in Lumpen, über Eisglasspiegel balancierend. Flüche, Geschimpfe. Arschloch. Idiot. Blödmann. Albernes Gelächter. Eine vereiste Leiter sprosst sich an Deck. Die Koffer schaffen es und sind jetzt in einer angemessen Umgebung, passen nun wie ein Maßanzug. Das Schiff frisst Meiler. Der Bierhahn war nur eine Attrappe. Das ganze Leben ist eine Attrappe. Das Schiff, das Holz, das Eis, alles ist nur Attrappe. Alles ist morgen tot, ist morgen nicht mehr. Alles stirbt, ist immer am Sterben. Alles Geborene, Gewordene, Bestehende stirbt schon bei seiner Entstehung... ist Attrappe. Nur die Menschen meinen, sie seien keine Attrappen, keine Schaupackungen. In der Winternacht verschwand das rote Schlusslicht des Taxis, und ihn fraß ein Schiff mit Koffern, mit seinem ganzen Besitz. Meiler wurde von Augenpaaren scharf und hart und schnell gemustert, von Vermummten in Pelz und Pudelmützen, von Gestalten in Lumpen und Latschen. Leise und dünn fragte Meiler, wo wohl der Kapitän anzutreffen sei. Im Salon, wurde ihm geantwortet. Stets schüchtern fragen, niemals aufdringlich, arrogant, anfeindend. Sich selbst ein bisschen schwächlich machen, verkleinern, verleitet den anderen dazu, zu fühlen oder als bereitwilliger Helfer aufzutreten, wenn nicht sogar Mitleid zu empfinden. Im Salon gern etwas forscher auftreten, damit reiht man sich selbst gleich ein. Oh, auf Schiffen kannte Meiler sich aus, da machte ihm niemand etwas vor, das ist anders als an Land oder im Fernzug, ganz bestimmt. Die Tür vom Salon stand auf. In einem Stuhl hing lederjackig und breitschulterig ein Wasserschutzpolizist. Wichtig schrieb der Maklerclerk in seinen Papieren, und der dritte, das war der Kapitän. Meiler klopfte an die offene Tür und trat gleich ein. „Mein Name ist Meiler, Meiler Melchior, ich bin der neue Dritte Ingenieur.“ Der Kapitän stand auf und gab Meiler schnell und hastig die Hand, sagte lispelnd und leise seinen Namen, Rischer oder so ähnlich. Mein Gott, dachte Meiler, ist das eine nervöse Nudel, der Alte. Seine Augen flatterten und flogen wie Kolibriflügel. Die Hände zitterten, wie die eines Berufsonanisten,
СКАЧАТЬ