Название: Hein Bruns: In Bilgen, Bars und Betten
Автор: Hein Bruns
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: maritime gelbe Buchreihe
isbn: 9783753193236
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Kapitel 2
Frostklarer Tag. Die Kälte knackt wie Krakauer Wurst. Quirlend flockt Weiß aus grauem Himmelstopf. Schnee knarrt und stöhnt unter Fußtritten. Vorortbahn. Ein Mädchen, sein, Meilers Mädchen, blieb zurück. Winkte und winkte, bis auch das Tuch eine Flocke war. Schön waren die Tage bei ihr, und noch schöner die Nächte, ja, die Nächte. Verflucht, die Nächte waren gut. Scheiße, jetzt nicht dran denken, bin sowieso leer wie meine Brieftasche. Nicht dran denken. Kann man auf See machen, wo man zum Nachdenken Zeit hat, auf langen Wachen und so. Dann kann man sich die Beine und Brüste und Mund und Augen wieder herbeiholen. Dann hat man auch was davon, und man kann was davon machen, so man keinen Hafen und keine Frauen hat. Aber jetzt, nee!
Weißwattige Rauchballen liegen auf nadelspitzen Industrieschornsteinen. Glühend brennt ein Feuer ein rotes Loch in das Schneegrau des Himmels: die Abgasflamme einer Ölraffinerie. Melchior Meilers fadenscheinige Koffer aus Fiber, Farbe und Pappe stachen im zermatschten Schnee des Abteils. Ein Zuchthaus gleitet vorüber, und in den Zellen brennt Licht. Schmutziggelbe Fleckenquadrate im Ziegeldunkel der Steine. Schmutziggelbe Flecken, von schwarzer Gitterschrift aufgeteilt. Schachbrettmuster der Unfreiheit. Die Zuchthauskapelle aber hat keine Flecken, morgens geht noch keiner beten. Die haben es gut, die da im Knast, haben zu essen, sind im Warmen und brauchen nicht zur See zu fahren. Vor Meiler, gegenüber, pult sich eine kopfbetuchte Frau in der Nase. Derjenige, der den Knetgummi erfunden hat, oder derjenige, der die Plastikbombe erdacht hat, hat bestimmt mit Nasenpopeln angefangen. Hat die Popel mit spitzen Fingern und bohrenden Nägeln aus der Nase geholt und die grünschwarzen Dingerchen zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her gedreht, gerollt, gewalzt zu Kugeln, zu Würsten, zu Walzen. Hat sie eingekniffen und sich vor Augen gehalten. So ist er auf Knetgummi gekommen, heute ein beliebtes Spielzeug für Kinder. So ist er auf die Plastikbombe gestoßen, heute ein beliebtes Spielzeug für Attentäter und Widerständler. Eigentlich müsste er an sein Mädchen denken, statt an Nasenpopel. Fünfzig Mark hatte Meiler schon nicht mehr. Taxe. Fahrkarte. D-Zug, versteht sich, er sollte ja schnell reisen. Doppelter Zuschlag, weil Fern-D-Zug. Er sollte ja schnell reisen. Die Zuschlagkarten machten schon einen feinen Mann aus ihm, es fährt nicht jedermann mit einem Fern-D-Zug, weiß Gott nicht. Einen feinen Mann, wenn auch die Koffer Pappkoffer sind, pah, was macht das schon? Junge und ältere Mädchen und Frauen, schlanke und dralle, steigen zu. Schnatternd, schnackend, gackernd, lachend, albern kichernd. Toupiert vergrößert. Gehackt vergrößert. Gemalt verschönt. Verkäuferinnen. Büroangestellte. Arbeiterinnen. Die Stadt frisst sie gleich, frisst und schluckt sie gleich, mit all der Farbe auf Gesichtern und Fingern. Mädchen und Frauen, die die Stadt gleich schluckt und die sie abends wieder auswirft, als sei sie ihrer überdrüssig. Keine Sorge aber um die Farbe, denn vor dem großen Auswurf treten der Pinsel und der Farbstift wieder in Tätigkeit. Nur der Glanz der Augen ist geschwächt. Der Glanz des herben Wintermorgens in den Augen der Mädchen, der ist abends stumpf. Den Glanz hat die Stadt behalten. Und den Tribut fordert sie täglich, bis die Augen ganz stumpf sind, so stumpf wie Milchglas. Aber daran haben die Wanze und der Wurm und die Schlange nun wirklich keine Schuld, nein, nein, daran nicht. Aber es gibt noch vielmehr Wanzen und Würmer und Schlangen in der Stadt, nicht nur bei den Reedereien, o nein. Und abends nach dem Auswurf werden die Mädchen und Frauen nicht mehr gackern und kichern und schnacken und schnattern, denn sie sind müde und abgekämpft. Sie haben den Glanz aus ihren Augen verloren, nur die Farbe ist frisch.
Meiler wird heute noch, heute Nacht noch von einem Schiff gefressen, mit Koffern aus Farbe, Fiber und Pappe. Und doch sind die Gedanken bei Mira, dem Mädchen der vergangenen Tage und Nächte. Dem Mädchen mit den glatten Gliedern. Mist, nicht dran denken. Fernbahnhof. Umsteigebahnhof. Im Wartesaal der unteren Klasse, am bespuckten Tresen, trank Meiler ein paar Glas Bier. Untere Klasse? Aha, es gibt also doch noch Klassen. Er möchte sich wohl besaufen..., denn es stand ein Mädchen allein auf dem zugigen Bahnsteig, und das Tuch war eine große Schneeflocke, und die kleinen Schneeflocken, die richtigen und wirklichen und weißen und nassen, zogen einen wirbelnden Schleier vor des Mädchens Augen. Deswegen möchte er sich besaufen, aber dafür haben „Die“ ihm kein Geld gegeben, dafür nicht.
Die Arbeitskraft, Personalausweisnummer D 3920206, Melchior Meiler, hat fünfzig Mark bekommen, damit die Arbeitskraft vom Schiff gefressen wird. Die fünfzig Mark müssen doch irgendwie wieder reinkommen, sicher doch. Nein, es wird einem nichts geschenkt. Wieso auch? Besoffen an rohen Holztischen. Mief. Rauch. Schweiß und Füße. Bier und Fuseldunst. Rauch. Bratwurstqualm. Besoffene an rohen Holztischen; denn für Besoffene legt man keine Tischdecken auf. Kellner in schmuddeligen Jacken; denn für diese Gäste braucht man keinen Frack. Schankmädchen, mürrisch und ungefällig, für diese Gäste braucht man kein Lächeln, keine Verbindlichkeiten. Ein Landgewächs steckt sich ungeübt und linkisch eine Zigarette an, zieht daran mit roten Lippen und gelben Zähnen. Stößt den Rauch in den Rauch und in den Schweiß und in den Bratwurstdunst. Verbirgt den Glimmstängel in seinem Handteller... es könnte doch wohl jemand aus dem Dorf hier sein. Zwischen ihren nach einwärts gerichteten Füßen räkelt sich ein blattgrünes Einkaufsnetz, aus dem es beißend und eindringlich herausschreit: HERTIE — HERTIE — HERTIE. Gott ja, das Mädchen will einmal eine Dame sein, und sei es im Wartesaal unterster Klasse, im Wartesaal mit Besoffenen an Holztischen, mit Rauch und Schweiß und Ausdünstungen und Bratwurstqualm. Im Wartesaal unterster Klasse eines Fernbahnhofes. Fünfzig Mark hatte Meiler nicht mehr.
Meiler schob seine Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe in das Abteil des Fernzuges. Und seine Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe hob er ins Gepäcknetz. Setzte sich selbst in die erste Ecke des Abteils, gleich links. Saß hineingedrückt, als hätte ihm die Verlegenheit einen Schubs gegeben. Saß, als hätten ihn die mitleidigen Polster herabgezogen und in sich aufgenommen, gnädigst. Saß, als hätten ihn der Rauch und der Schweiß und der Bratwurstdunst hier hineingeraucht, hineingeschweißt in diese vornehme Luft. Und die Luft ist vornehm in einem Abteil der oberen Klasse, stinkvornehm ist die. Die Dame am Fenster ist vornehm. Sie hat sich ihren Pelzmantel lose um die Schultern gehängt und sieht gelangweilt aus dem Fenster. Ihre Koffer im Netz stinken nach Schweinsleder. Aber diese Dame popelt sich nicht in der Nase, weiß Gott nicht, zumindest aber nicht öffentlich, denn die Dame ist vornehm. Und der Herr, Meiler gegenüber, ist auch vornehm. Seine Hosenbeine hat er hochgezogen, und die Bügelfalten sind scharf wie ein Paprikaschnitzel. Ist bestimmt teurer Stoff, aus dem der Anzug geschneidert ist, ein Stoff, worin sich auch Bügelfalten wohl fühlen. Ja, der Herr ist vornehm. Musste Meiler sich da nicht in eine Ecke drücken, in die erste beste, in das mitleidige Polster hinein? Aber er hat doch auch eine Fern-D-Zug-Zuschlagkarte, warum ist er eigentlich nicht vornehm? Ach ja, Entschuldigung, die Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe, die machen es wohl, dass er nicht vornehm ist. Ja sicher, die sind das auch, …denn an ihren Koffern sollt ihr sie erkennen. Meiler nahm die Boulevard-Zeitung - und erschrak sich. Er erschrak, weil die Zeitung beim Entfalten raschelte. Nein, СКАЧАТЬ