Название: Stille Nacht
Автор: Johann Widmer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754908129
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Schliesslich hatte er die Stadt hinter sich gebracht.
Er wollte aber nicht der grossen Landstrasse folgen und bog daher in den ersten Feldweg ein, den er im Dunkel erkennen konnte. Aber im dicken Nebel und in der totalen Dunkelheit kam er bald vom Weg ab und irrte nun ziellos über nasses Wiesengelände, stolperte über Steine, fiel in kleine Gräben, rappelte sich wieder auf, geriet in ein Gebüsch, das ihm Gesicht und Hände zerkratzte, schlug sich die Stirn blutig an einem Baumstamm und stürzte schliesslich über eine steile Böschung hinunter. Steine, die er im Fallen losgerissen hatte, plumpsten weiter unten ins Wasser. Vielleicht war da ein Baggersee.
Ihm war alles egal.
Er blieb erschöpft liegen.
Tief atmete er die kühle Luft ein.
Wie wohl das tat.
Er genoss die totale Stille, die ihn hier umgab. Kein noch so ferner Laut drang an sein Ohr.
Stille, absolute Stille herrschte hier.
Man konnte sie förmlich spüren.
Er wusste nicht, wo er hingeraten war, wollte es auch nicht wissen.
Es war plötzlich ruhig, aussen und innen, vor allem hatte der grosse Leerlauf in seinem Hirn aufgehört sich zu drehen. Er fühlte sich plötzlich frei, leicht wie Luft.
Ach, wie schön war das!
Er spürte weder die zunehmende Kälte der Nacht noch die Nässe seiner Kleider, er spürte nur den grossen Frieden, der sein Innerstes erfüllte.
Ach ja, richtig, es war ja Heiligabend.
Stille Nacht, heilige Nacht...
Ein Stern leuchtet über Betlehem
Dezember 1999
Ahmed, mein lieber Bruder!
Möge Allah auch weiterhin seine schützende Hand über dich halten und dir Gesundheit und Frieden geben. Assalamaleiki!
Dein Brief aus dem fernen Deutschland hat uns viel Freude verursacht und ein warmes Licht in unser dunkles Dasein gebracht. Die Oma, Umm‘ Mohammed liess sich deinen Brief schon dreimal vorlesen und hat dazu immer weinend Segenswünsche geflüstert.
Sicher hast du im Traum ihr «Barakaloufiq» gehört.
Du weisst ja, wie schwer sie es hat, sie, die einst stolze und freie Bäuerin auf eigenem Land war und nun hier wie eine Gefangene in dieser schrecklichen Stadtwohnung eingesperrt ist.
Sie wurde übrigens letzte Woche von israelischen Soldaten arg verprügelt, weil sie, zusammen mit ein paar andern Alten gegen die neuste Landnahme der Siedler protestiert hatte.
All‘ hamd ul Illah, wurde sie dabei äusserlich nicht ernsthaft verletzt, aber ihre innere Wut bekam neue Nahrung. Es ist schrecklich zu sehen, wie sie sich von Hass und verletztem Stolz verzehren lässt. Aber bei alledem, was sie in ihrem schweren Leben an Leid und Ungerechtigkeit erdulden musste, ist dies nicht weiter verwunderlich.
Möge Allah ihren Wunsch erfüllen, dass sie irgendwann in der Zukunft wieder auf ihre geliebte Erde zurückkehren kann, in schah‘ Allah.
Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr.
Unsere Familie ist sehr stolz auf dich, mein lieber Bruder und wir sind sicher, dass du an der dortigen Universität ebenso glanzvoll abschliessen wirst, wie einst unser Papa in Beirut.
Der gute Abschluss ist wichtig, wie du weisst, denn wir Palästinenser haben unsern Stolz, wir wollen der Welt zeigen, wer wir in Wirklichkeit sind. Denk daran!
Wir wollen ein gebildetes, intellektuelles Volk sein und nicht mehr die schmutzigen unrasierten Terroristen von einst.
Wegen des bevorstehenden Besuches des Papstes wurde unsere Stadt festlich geschmückt, du würdest dein Bethlehem kaum mehr wieder erkennen. Über der Geburtsstätte von Aissa prangt ein riesiger Stern, sieht ganz hübsch aus.
Viele Palästinenser hoffen, dass der Papst uns dem Frieden ein Stück näherbringen werde, Allah möge ihm beistehen…
Ich persönlich aber bezweifle sehr, dass sich irgendwas bewegen werde, wir kennen dieses heuchlerische Spiel nur allzu gut.
Der reiselustige alte Herr aller Christen will doch nur die heiligen Orte seiner Religion besuchen, Bethlehem, El Quds und was weiss ich was noch, und dann heisst es wieder „Addio, liebe Freunde, tut mir leid, dass ich nicht mehr für euch tun kann, als euch meinen Segen spenden“ und dann fliegt er wieder weg.
Und das wär’s dann gewesen.
Und die Israeli bedrohen uns weiterhin mit ihren Panzern und ihren Kampfbombern und ihre Geheimpolizei und ihre Armee wütet mit der alten Brutalität weiter, sogar Frauen und Kinder fallen ihren Kugeln zum Opfer, die Siedler halten weiterhin ihr gestohlenes Land fest in ihren Händen, man stiehlt uns weiterhin unser Wasser, man hält uns weiterhin wie Tiere gefangen und weiterhin sieht die ganze Welt ihrem Treiben tatenlos zu.
Mit Hilfsgeldern will man uns den Mund stopfen, aber mit dem Geld geht es hier wie mit dem Wasser: eine Hälfte verdunstet unter der Sonne, die andere versickert im trockenen Boden und dann weiss niemand, wo es geblieben ist.
Helfen?
Weder Papst noch amerikanischer Präsident noch irgendwer wird uns je helfen. Alles Heuchelei und leere Worte.
Almosen.
Wir wollen keine mitleidige, heuchlerische und erniedrigende Hilfe, wir wollen unser Land zurück, wir wollen eine Heimat, wir wollen Gerechtigkeit, wir wollen…
…der Glaube an Gerechtigkeit ist uns verloren gegangen, das Unrecht regiert hier schon viel zu lange
Unsere einzige Hoffnung ist Allah, ist unser Glaube, der wahre Glaube, der uns unsere Situation ertragen lässt.
Mit eigener Kraft werden wir nie aus diesem Elend herauskommen.
Wenn wir uns wehren und Steine werfen, Steine gegen Panzer, wird scharf geschossen, wenn die Hamas in Gaza selbst gebaute Raketen abfeuert, voller Wut, ins Nichts hinaus, kommen Kampfhelikopter und jagen unsere Jungen wie Hasen, wenn ein Attentäter eine Bombe zündet, so wird sein Haus gesprengt, seine Familie vertrieben …
Wir sind ohnmächtig, wehrlos, dem Feind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, wir liegen am Boden und die Welt schaut weg. Ob auch Allah wegschaut?
In scha’Allah
Aissa, ein Jude und der Prophet der Christen soll gesagt haben: «Liebet eure Feinde». Das klingt so schön und verdammt edel aber nicht einmal die Christen können es. Da sind die Juden mit ihrem «Auge um Auge …»der Wirklichkeit näher.
Oh Ahmed, mein liebster Bruder, könnte ich doch nur hier weg, hinaus aus diesem Elend und dieser demütigenden Situation. Was würde ich СКАЧАТЬ