Название: Stille Nacht
Автор: Johann Widmer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754908129
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Als wir vors Haus traten, kam eine Gruppe Jugendlicher auf uns zu. Es waren Schüler aus meiner Klasse. Sie waren gänzlich verstört und ich brauchte lange, bis ich begriffen hatte, dass unsere Maria, die Maria Ndola beim Bombenangriff umgekommen war.
Stille Nacht
Weihnachten 1998
Gedankenverloren zerbröselte er das Brot in seinem Teller, schob die Krümel mit dem Finger zu kleinen Häufchen, zerstreute sie wieder, schob sie wieder zusammen, während sein Blick unstet an der gegenüberliegenden Wand den Rissen im Putz folgte, ohne auch nur etwas von dem was er sah, wirklich wahrzunehmen.
Manchmal gab es so etwas wie ein Erwachen, dann seufzte er, griff zur Bierflasche und nahm einen grossen Schluck.
Widerliches Gesöff.
Er blickte um sich, als ob er aus einem Traum erwachen würde, aber was ihn da umgab, diese armselige, vergammelte Behausung, diese kalte und leere Höhle, den Schimmel an den Wänden …braune Wasserflecken an der Decke…
… das wollte er nicht sehen.
Heute jedenfalls nicht.
Er wollte keine Fragen, keine Antworten, nichts. Er wollte abschalten, vergessen, denn jede Erinnerung, die in ihm aufstieg, war sehr schmerzhaft.
Manchmal packte ihn eine heilige Wut, in der er alles hätte kurz und klein schlagen können, aber er brachte keinerlei Kraft mehr auf, um seinem wilden Zorn Ausdruck zu geben. Was hätte es auch gebracht?
Dann überfiel ihn plötzlich eine tiefe Trauer, Selbstmitleid und schwarze Gedanken. Das Spiel war zu Ende und er hatte verspielt, jämmerlich versagt.
Man sollte Schluss machen, endgültig, aber er brachte nicht mehr so viel Mut auf. Er war am Boden, war hinterrücks umgeschmissen worden, ein Blitz hatte ihn, sozusagen aus heiterem Himmel getroffen, mitten in seine Ahnungslosigkeit hinein.
Man sollte vergessen können, alles vergessen, auch dass heute Weihnachtsabend war.
Zum ersten Mal in seinem Leben war er an diesem Abend allein und einsam.
Es war aber nicht nur das Alleinsein, das ihn schmerzte, er war ausgestossen worden.
Ob seine Familie, die nicht mehr die seinige war, wohl in der Wohnstube versammelt war, wie jedes Jahr? Lichterbaum, Geschenke, das festliche Weihnachtsmahl angerichtet.
Ohne ihn?
Er sah, wie seine beiden Söhne am Klavier musizierten, er sah Isabella...nein, das wollte er nicht sehen, das war vorbei, für immer.
Vielleicht wohnte Gerd, Isabellas Freund und Geliebter noch nicht bei ihnen, vielleicht...
Nein, er wusste ganz genau, dass der andere nun seine Stelle eingenommen hatte, endgültig.
Man musste vergessen, Zeit heile Wunden, sagt man.
Aber dass sich seine Söhne ohne zu Zögern für ihre Mutter entschieden hatten, das würgte ihn.
In seiner grossen Enttäuschung wollte er nun auch von seinem Besuchsrecht keinen Gebrauch machen.
Trotz und beleidigter Stolz bäumten sich in ihm auf.
Sie hatten sich entschieden, basta.
Sie waren gestorben, hatten nie existiert.
Vielleicht gelang es ihm, sich wieder aufzufangen, vielleicht auch nicht, was machte dies schon aus. Eine neue Familie zu gründen, lag finanziell nicht mehr drin, denn er musste weiterhin für das Wohlergehen seiner Familie, die nicht mehr die seinige war, aufkommen.
Es reizte ihn nicht mehr, mit irgendeinem anderen Menschen in Kontakt zu treten.
Wozu auch?
Er war weder je ein Kneipenhocker noch ein Vereinsmeier gewesen, jene Kreise widerten ihn an und zudem konnte er es sich als höherer Beamter gar nicht erlauben sich mit dem kleinen Volk gemein zu machen.
Nun, sein Höhenflug würde ja demnächst einen argen Knick bekommen, denn man munkelte schon seit Monaten von Stellenabbau und Rationalisierung. Da würde seine Arbeitsstelle bestimmt davon betroffen. Aber das war ihm im Augenblick völlig egal. Sollten sie. Man würde ihm ein anderes Arbeitsfeld zuweisen. Oder auch nicht.
Seine Alkoholprobleme hatten sich mittlerweile im ganzen Betrieb herumgesprochen.
Ein Arbeitsloser mehr oder weniger, darauf kam es nun auch nicht mehr an.
Und wenn er nun den Bettel einfach so hinschmiss?
Einfach so, ist gar nicht so einfach.
Und dann mit dem Ersparten verschwinden. Nach Brasilien vielleicht, oder nach Tahiti? Und wenn das Geld alle war, dann konnte man immer noch zurückkommen und vom Sozialamt leben.
Er war kein Robinson, er hatte schon immer Abenteuer vermieden, wenn möglich…
Wenn er sich in der Wohnung umschaute, so schien es ihm, er sei bereits auf die Stufe des hilflosen Sozialhilfeempfängers herabgesunken. Aber so in der Eile hatte er nichts Besseres finden können als diese etwas heruntergekommene Einzimmerwohnung. Einen jahrelangen Hotelaufenthalt konnte er sich nicht leisten. Ausserdem kannte niemand diesen seinen jetzigen Aufenthaltsort.
War auch gut so.
Vor allem seine Familie nicht. „Seine“ Familie! Er würde sich nicht so rasch daran gewöhnen, dass er keine Familie mehr hatte.
Komisch.
Noch vor kurzer Zeit schien es ihm, als ob die Welt völlig in Ordnung sei und dann kam plötzlich diese abrupte Wende, die alles umgeschmissen hatte.
Gut, Isabella hatte ihm kein Theater vorgespielt, hätte sie auch nicht gekonnt, es wäre zum billigen Schmierenstück herabgesunken, aber so frei und offen, so direkt ihm ins Gesicht zu sagen, dass die Zeit der Gemeinsamkeit vorbei sei, dass da ein anderer...
..und ausgerechnet Gerd, sein ehemaliger Studienkollege, den er nie hatte riechen können
...und jetzt, ja, jetzt war Heiligabend...
Seine Finger kneteten Brotkügelchen, im Treppenhaus stritten sich zwei Kinder, der lärmende Verkehr auf der Strasse beruhigte sich allmählich, die Brotkügelchen wurden an den Tellerrand gepresst, zu einer Kugel geformt und dann wieder zerbröselt.
Er musste unbedingt etwas unternehmen, um aus seiner Depression herauszukommen.
Sich besaufen gehen?
War nicht besonders verlockend, wenn man schon im Säuferelend steckte.
Zur Weihnachtsmesse?
Er musste unwillkürlich lachen. Ausgerechnet er! Der engagierte 68-er, der damals gegen Kirche, Staat und Familie ins Feld gezogen war. СКАЧАТЬ