Miro. Christina Hupfer
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Название: Miro

Автор: Christina Hupfer

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783742718716

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СКАЧАТЬ ‚schlimmen Stadt‘ noch immer im Safe in Berlin.

      Als diese widerlichen Menschen festgestellt hatten, dass sie ihnen mit ihrem entstellten Gesicht kein Geld bringen würde, hatten sie sie kurzerhand Wladimir ausgehändigt. Der hatte gerade in dieser riesigen Stadt eine Truppe armer Teufel für seine Bettlerkolonne zusammengetrieben, die im Süden Deutschlands operieren sollte. In welcher Ecke der Welt hatten die eigentlich nicht ihre schmutzigen Finger? Ravensburg stand auf dem Ortsschild, an dem sie nun jeden Tag vorüber fuhren. Die Stadt der Spiele wäre das, hatte jemand zu ihr gesagt. Ha! Es war ein übles, chancenloses Spiel, das das Leben hier mit ihnen spielte. Tag für Tag mussten sie dieser unwürdigen ‚Arbeit‘ nachgehen, und wenn sie nicht genug ‚verdienten‘ mit Schlägen und Schlimmerem rechnen. Aber auch wenn jemand von ihnen ohne Ausweis flüchten und eventuell untertauchen könnte. Ihre Wärter würden sich an den Familien bitter rächen.

      „Haben dich in Netz, kleiner Vögelchen. Musst mitsingen. Sonst wir holen vielleicht kleine Kind von Verwandte. Bringt viel Geld.“ Der faulige Atem des Mannes, dem sie nicht ausweichen konnte, ließ sie in Hoffnungslosigkeit erstarren. „Ist überhaupt gute Idee!“ Wenn sie Wladimir in seiner neuen billigen Trainingshose und der imitierten Lederjacke auch nur näher kommen sah, wurde ihr schlecht. Wie immer sie auch in schlaflosen Nächten hin und her überlegte: sie fand keinen Ausweg. Wie oft schon hatte sie in der öffentlichen Toilette gesessen und sich vorgestellt, einfach dort sitzen zu bleiben oder in eine andere Richtung davonzulaufen. Und doch zog es sie unbarmherzig immer wieder zurück. Sie zappelte im wahrsten Sinne des Wortes in einem Netz aus Drohungen, Verantwortungsgefühl und Scham.

      Sie dachte an den Brief, den sie heute in die kleine Plastiktüte gesteckt und in einer Ritze der Mauer versteckt hatte. Mama, Papa, ich kann nicht mehr. In der kleinen Mauer um eine grüne Insel vor einem Einkaufszentrum, an der man sie seit einigen Tagen, Gott sei Dank, wieder zum Betteln ausgesetzt hatte. Der Mauer, in der in einer anderen Ritze das Geld steckte, das sie immer wieder heimlich von ihren Einnahmen abgezweigt hatte. Viel war es nicht, aber wenigstens eine kleine Hoffnung, und besser als Nichtstun. Genauso eine kleine Gegenwehr wie ihre recht guten Deutschkenntnisse. Die hatte sie instinktiv verschwiegen. Wehmütig dachte sie an Baba Dora. Wenn sie von ihren Eltern zum Helfen dort hin geschickt wurde — sie war ja nicht immer nur am Streunen — hatte sie mit ihr begeistert deren heimatliche Lieder gesungen. ‚Sah ein Knab ein Röslein stehn‘ beim Beeren pflücken. Das Lied von der Bachforelle beim Wäsche aufhängen. ‚Am Brunnen vor dem Tore‘ abends auf der Bank vor dem kleinen Haus. Sie hatte von ihr die Übersetzungen wortwörtlich gelernt und ab und zu in dem Kirchen-Gesangbuch der alten Frau geblättert, und sich gefreut, wenn sie ein Wort davon wiedererkannt hatte. Und Baba Dora hatte gegluckst vor Vergnügen wenn sie ihr auf Deutsch eine Gute Nacht und ‚So manchen süßen Traum’ gewünscht hatte. In der Schule hatte sie weitergelernt, und in ihrer kurzen Zeit im Reisebüro war ihr das sehr zugute gekommen. Für normale Unterhaltungen taugte das also durchaus, und in Gedanken übte sie, was sie der Polizei sagen würde. Sagen wollte!

      Aber unter ihren Leidensgenossen im Bus saß einer der das auch versucht hatte. Wladimir hatte ihm vor kurzem ein Foto seines Kindes in die Hand gedrückt, aber erst nachdem er es ihnen allen mit einem bösen Leuchten in den Augen gezeigt hatte. Das Bild eines Kindes in einem Krankenhausbett. Nur ein trauriges Auge schaute den Betrachter an. Das andere war von einem dicken Verband bedeckt. Und sie wusste, sie würde es nicht wagen.

      Nein, das Einzige wozu im Moment ihre Sprachkenntnisse dienten war dass sie sehr gut verstand, wenn sich die Leute abfällig über sie äußerten. Sie schämte sich so sehr, zog ihr Taschentuch heraus und schnaubte in den bereits durchweichten Stoff. Vielleicht kam morgen wieder der alte Mann vorbei, der sich nicht zu schade war, sich auf die Mauer neben sie zu setzen um sich mit ihr zu unterhalten. Es tat gut, einmal nicht als Einzige den verlegenen, missbilligenden, manchmal auch mitleidigen Blicken der vorbei hastenden, rechtschaffenen Bürgern dieser Stadt ausgesetzt zu sein. Vom Aussehen her passte er natürlich auch eher zu ihr. Seine strähnigen grauen Haare hatte schon lange kein Friseur mehr berührt. Dafür hielten sie guten Kontakt zu dem abgewetzten Kragen seiner zerschlissenen Steppjacke unter der sich ein geflickter Pullover über einem ansehnlichen Bauch spannte. Hose und Schuhe hatten auch schon ein intensives Leben hinter sich, und sie wollte gar nicht wissen, was sich in seinem gestopft vollen, abgenutzten Rucksack befand. Aber in seinem bärtigen Gesicht leuchteten ein Paar mitfühlende Augen, und sein Begleiter, ein braunschwarzer Hund mit wuscheligen Ohren, weißen Vorderpfoten und einem hinreißenden Lächeln, hatte ein gepflegtes seidiges Fell.

      „Darf ich mich vorstellen? Johannes, mein Name“, hatte er sich förmlich vorgestellt, als er ihr das erste Mal begegnet war. „Und das ist Rumo, mein bester Freund. Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“

      „Bitte ich sehr. Ich, Miro...“ Ein Impuls zwang sie dazu ihren Namen zu kürzen. Sie war nicht mehr die kleine unbedarfte Miroslava. Sie wollte auch nicht mehr Milava oder Slavenka genannt werden. „Ich heiße Miro. Und ich bitte darum.“

      Rumos Schwanz wedelte heftig, und seine Schnauze nahm begeistert Witterung auf. Von ihr und vom Inhalt des Rucksacks.

      „Geh hin und iss dein Brot mit Freude, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen“, hatte Johannes deklamiert, seinen Proviant ausgepackt und auch ihr davon angeboten.

      Tage später hatte sie ihren Kolonnenführer, diesen unsäglichen Wladimir, inständig gebeten sie nicht mehr vor dem Einkaufszentrum abzusetzen. Die sicherste Methode, doch wieder hier zu landen. Sie musste lächeln als sie daran dachte, wie oft schon Johannes und Rumo vorbeigekommen waren und ihr Gesellschaft geleistet hatten. Sie teilten immer ihr Vesperbrot mit ihr und lasen gemeinsam die Schlagzeilen der Zeitung, in die es eingepackt war. Mit seinem Mobiltelefon, das seltsam unpassend in seinen knorrigen Händen wirkte, fand ihr neuer Freund die Möglichkeit, ihren fehlenden Wortschatz zu erweitern, und so konnten sie sich gemeinsam über eine aus den Fugen geratene Welt wundern:

      IST BORIS TATSÄCHLICH PLEITE?

      ...gestern noch Millionär, heute Bettler...

      NICHT NUR DAS KLIMA SPIELT VERRÜCKT.

      ...aber alle stecken den Kopf in den Sand...

      „JAKOBSPILGERN, DER NEUE HYPE?“

      ...eine Muschel schafft Verbindungen...

      EIN JAHR IM OUTBACK

      ...Jobs für Rucksacktouristen schlecht bezahlt...

      JOGGERIN SPURLOS VERSCHWUNDEN

      ...sind unsere Frauen nicht mehr sicher...

      „REGIERUNGSPUZZLE IN BERLIN“

      ...Die Lachnummer einer untergehenden Kultur...

      „KEINE CHANCE FÜR ARME TEUFEL“

      ...Ausgelutscht, Ausgemustert, Obdachlos...

      Auch Johannes schien irgendwie durch die Maschen der „normalen“ Gesellschaft gefallen zu sein. Er hatte zu allem ziemlich schräge Ansichten. Sie dachte zwar nicht, dass er wohnsitzlos war. Er wirkte nicht verwahrlost. Aber er hatte offensichtlich eine Abneigung gegen geschlossene Gebäude. Er erklärte ihr, ein Mensch müsse immer in der Lage sein, jederzeit und überall sein Lager aufschlagen zu können. Er jedenfalls sei für alles gerüstet und wies auf seinen zum Platzen gefüllten Rucksack.

      Über ihr eigenes Problem konnte sie nicht reden. Sie brachte es nicht fertig, und er überging das feinfühlig. Aber sie durfte von seinem Handy zuhause in Panjagurtschik anrufen. Dankbar hatte sie dabei Johannes angeschaut und Rumo das Fell im Nacken gekrault. Im dem Moment hatte sie jedenfalls СКАЧАТЬ