Название: Die neue Medizin der Emotionen
Автор: David Servan-Schreiber
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783956140846
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Wie bei archäologischen Grabungen lässt sich diese sukzessive Evolution in Anatomie und Physiologie des menschlichen Gehirns schichtenweise nachvollziehen. Die tief liegenden Strukturen des Gehirns sind mit denen der Menschenaffen, bestimmte, nämlich die am tiefsten liegenden, sogar mit denen von Reptilien identisch. Im Gegensatz dazu sind die Strukturen aus der jüngsten Evolutionsphase, etwa der präfrontale Kortex (hinter der Stirn) nur beim Menschen derart hoch entwickelt. Aus diesem Grund unterscheidet die vorgewölbte Stirn das Gesicht des Homo sapiens so klar und deutlich von dem seiner den Menschenaffen am nächsten verwandten Vorfahren. Was Darwin verkündete, war dermaßen revolutionär und beunruhigend, dass die entsprechenden Schlussfolgerungen erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts wirklich akzeptiert wurden: Wir sind dazu verdammt, mit einem Gehirn im Inneren unseres Gehirns zu leben, das dem der in der Evolutionsreihe unter uns stehenden Tiere entspricht.
Freud seinerseits betonte die Existenz eines Teilbereichs des psychischen Lebens, den er als »das Unbewusste« bezeichnete und folgendermaßen definierte: das, was sich nicht nur der bewussten Beachtung, sondern darüber hinaus auch der Vernunft entzieht. Von der Ausbildung her Neurologe, konnte Freud sich nie dazu entschließen, die Vorstellung zu akzeptieren, dass seine Theorien sich möglicherweise nicht in Begriffen von Gehirnstrukturen und -funktionen erklären ließen. Da er nicht über dasselbe Wissen hinsichtlich der Anatomie des Gehirns (seiner Architektur) und vor allem seiner Physiologie (seiner Funktionsweise) verfügte wie wir heutzutage, war es ihm unmöglich, auf diesem Weg weiterzukommen. Sein Versuch, die beiden Bereiche miteinander in Einklang zu bringen – sein berühmter »Entwurf für eine wissenschaftliche Psychologie« –, endete mit einem Misserfolg. So unzufrieden war er damit, dass er sich weigerte, ihn zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. Dennoch dachte er ständig daran. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit Dr. Wortis, einem berühmten Psychiater, den Freud analysiert hatte. Er war fünfundachtzig, aber im Rahmen der wichtigsten Zeitschrift der biologischen Psychiatrie, Biological Psychiatry, die er begründet hatte, immer noch sehr aktiv. Er erzählte mir, wie Freud, dem er Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in Wien einen Besuch abstattete, ihn mit seiner Hartnäckigkeit überrascht hatte: »Geben Sie sich nicht damit zufrieden, sich die heutige Ausformulierung der Psychoanalyse anzueignen. Die ist bereits überholt. Ihre Generation wird erleben, dass sich eine Synthese zwischen Psychologie und Biologie herstellt. Das ist es, worauf Sie sich konzentrieren sollten.« Während die ganze Welt allmählich seine Theorien und seine »Redekur« entdeckte suchte Freud, immer ein Pionier, schon ganz woanders…
Ende des 20. Jahrhunderts lieferte Antonio Damasio, ein Amerikaner portugiesischer Herkunft und ein großer Arzt und Forscher, eine neurologische Erklärung der beständigen Spannung zwischen dem primitiven und dem rationalen Gehirn – zwischen den Leidenschaften und der Vernunft –, und zwar in Begriffen, mit denen Freud bestimmt einverstanden gewesen wäre. Damasio ging noch weiter und zeigte darüber hinaus, inwiefern Gefühle für die Vernunft schlicht unentbehrlich sind.
DIE ZWEI GEHIRNE:
DAS KOGNITIVE UND DAS EMOTIONALE
In den Augen Damasios ist das psychische Leben das Ergebnis eines fortwährenden Versuchs einer Symbiose zwischen den beiden Gehirnen. Auf der einen Seite ein kognitives Gehirn: bewusst, rational und der Außenwelt zugewandt. Andererseits ein emotionales Gehirn: unbewusst, zuvörderst aufs Überleben bedacht und vor allem: in engem Kontakt mit dem Körper. Diese beiden Gehirne sind relativ unabhängig voneinander und beeinflussen jedes auf sehr unterschiedliche Weise unsere Lebenserfahrung sowie unser Verhalten. Wie Darwin vorausgesagt hatte, umfasst das Gehirn zwei große Teilbereiche: Im Innersten, ganz in der Mitte, befindet sich das uralte Gehirn, das uns und allen Säugetieren, in gewissen Teilen auch den Reptilien, gemeinsam ist. Dies ist die erste Schicht, die im Verlauf der Evolution abgelagert wurde. Der große französische Neurologe des 19. Jahrhunderts, Paul Broca, der sie als Erster beschrieb, gab ihr den Namen »limbisches« Gehirn.6 Um dieses limbische Gehirn herum hat sich im Verlauf von Jahrmillionen der Evolution eine jüngere Schicht gebildet, das »neue« Gehirn oder der »Neokortex«, was im Lateinischen »neue Rinde« oder »neue Schale« oder »neue Umhüllung« bedeutet (siehe Abbildung 2 im Bildteil).
Das limbische Gehirn kontrolliert die Gefühle und die Körperphysiologie
Das limbische Gehirn besteht aus den am tiefsten liegenden Schichten des menschlichen Gehirns. Es handelt sich in der Tat um »ein Gehirn im Gehirn«. Ein in meinem Labor für neurokognitive Wissenschaft an der Universität Pittsburgh aufgenommenes Foto veranschaulicht dies (siehe Abbildung 3 im Bildteil). Injiziert man Freiwilligen eine Substanz, die unmittelbar den tief liegenden, für die Angst zuständigen Bereich des Gehirns stimuliert, sieht man, wie das emotionale Gehirn aktiv wird – beinahe wie eine aufleuchtende Glühlampe –, während sich darum herum im Neokortex keinerlei Aktivität feststellen lässt.
Im Verlauf der Untersuchung, auf die diese Illustration zurückgeht, ließ ich mir als Erster die Substanz injizieren, die das emotionale Gehirn direkt aktiviert. Sehr gut erinnere ich mich an die seltsame Empfindung, die ich danach hatte: Ich verspürte entsetzliche Angst, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, warum. Es war eine Erfahrung »reiner« Angst, einer Angst, die sich mit nichts Bestimmtem verband. In der Folge beschrieben zahlreiche Teilnehmer an dem Experiment das gleiche merkwürdige Gefühl intensiver, »aufwallender« Angst, das glücklicherweise nur einige Minuten anhielt.7
Die Organisation des emotionalen Gehirns ist weit einfacher als die des Neokortex. Im Unterschied zu dem, was in Letzterem abläuft, ist die Mehrzahl der Bereiche des limbischen Gehirns nicht in regelmäßigen Neuronenschichten angeordnet, die eine Verarbeitung von Information ermöglichen; vielmehr sind die Nervenzellen hier miteinander verschmolzen. Infolge dieser weit rudimentäreren Struktur ist die Informationsverarbeitung durch das emotionale Gehirn viel primitiver als die im Neokortex. Doch sie läuft schneller ab und ist in höherem Maße für elementare Überlebensreaktionen geeignet. Aus diesem Grund kann beispielsweise im Halbschatten eines Waldes ein Stück Holz, das auf dem Boden liegt und einer Schlange gleicht, eine Angstreaktion auslösen. Noch ehe das übrige Gehirn die Analyse abschließen und zu dem Schluss kommen kann, dass es sich um etwas Harmloses handelt, hat das emotionale Gehirn, ausgehend von sehr bruchstückhaften und oft sogar falschen Informationen, bereits die Überlebensreaktion ausgelöst, die ihm am geeignetsten erschien.8
Selbst das Gewebe des emotionalen Gehirns unterscheidet sich von dem des Neokortex. Wenn ein Virus – etwa ein Herpes- oder ein Tollwutvirus – das Gehirn angreift, wird lediglich das tief liegende Gehirn infiziert, nicht aber der Neokortex. Aus diesem Grund macht Tollwut sich als Erstes durch ein ausgesprochen anormales emotionales Verhalten bemerkbar.
Das limbische Gehirn ist ein Kommandoposten, der fortwährend Informationen aus verschiedenen Körperbereichen erhält und darauf entsprechend reagiert, indem es das physiologische Gleichgewicht kontrolliert: Die Atmung, der Herzrhythmus, der Blutdruck, der Appetit, der Schlaf, die Libido, die Ausschüttung von Hormonen und selbst das Immunsystem unterliegen seinen Befehlen. Aufgabe des limbischen Gehirns ist es offenbar, die verschiedenen Funktionen im Gleichgewicht zu halten, in jenem Zustand also, den der Vater der modernen Physiologie, der Ende des 19. Jahrhunderts wirkende französische Gelehrte Claude Bernard, als Homöostase bezeichnete: das dynamische Gleichgewicht, das uns am Leben hält.
Aus diesem Blickwinkel sind unsere Emotionen nichts anderes als das bewusste Erleben eines großen Zusammenspiels physiologischer Reaktionen, die die Aktivität der biologischen Systeme des Körpers überwachen und ständig den Notwendigkeiten der inneren und äußeren Umgebung anpassen.9 Das emotionale Gehirn kennt daher den Körper viel besser СКАЧАТЬ