Название: Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
Автор: Jesmyn Ward
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783956142284
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»Ich weiß, du willst nett sein und den Jungen abholen. Aber dir ist schon klar, dass er sonst in den Bus gesetzt wird, oder?«
»Er ist der Daddy von meinen Kindern, Pop. Ich muss ihn abholen.«
»Und seine Mama und sein Papa? Was, wenn die ihn abholen wollen?«
Daran hatte ich nicht gedacht. Ich stelle das leere Glas ins Waschbecken und lasse es dort stehen. Pop wird sich beschweren, weil ich mein Geschirr nicht abwasche, aber meistens schimpft er mit mir nicht wegen zwei Sachen auf einmal.
»Wenn sie ihn abholen wollten, hätte er mir das gesagt. Hat er aber nicht.«
»Warte doch, bis er wieder anruft, ehe du dich entscheidest.«
Ich erwische mich dabei, wie ich mir den Nacken massiere, und höre damit auf. Mir tut alles weh.
»Nein, das geht nicht, Pop.«
Pop geht einen Schritt von mir weg und schaut an die Küchendecke.
»Du musst mit deiner Mama reden, ehe du losfährst. Ihr sagen, dass du wegfährst.«
»Ist es so ernst?«
Pop greift sich einen Küchenstuhl und ruckelt daran, rückt ihn gerade, wird dann still.
Given-nicht-Given blieb den ganzen Abend bei mir, als ich bei Misty war. Er folgte mir sogar noch zum Auto und setzte sich auf den Beifahrersitz, stieg einfach durch die Tür ein. Als ich von Mistys Schotterauffahrt auf die Straße fuhr, blickte Given geradeaus. Auf halbem Weg nach Hause, auf einer der dunklen zweispurigen Landstraßen, wo der Asphalt so abgefahren ist, dass die Reifen knirschten und ich dachte, die Straße sei gar nicht gepflastert, wich ich einem Opossum aus. Es erstarrte mit buckligem Rücken im Scheinwerferlicht, und ich hätte schwören können, dass ich es fauchen hörte. Als meine Brust sich wieder entspannte, sich nicht mehr wie ein Kissen voller heißer Stecknadeln anfühlte, schaute ich wieder zum Beifahrersitz rüber, und Given war nicht mehr da.
»Ich muss hin. Wir müssen hin.«
»Warum?«, sagt Pop. Es klingt fast sanft. Die Sorge um uns macht seine Stimme eine Oktave tiefer.
»Weil wir seine Familie sind«, sage ich. Eine brennende Linie zieht sich von meinen Zehenspitzen über den Bauch hoch bis in meinen Hinterkopf, ein Hauch von dem, was ich gestern Abend gespürt habe. Und dann geht es weg, und ich bin starr, still, in einem Tief. Pop presst die Lippen fest zusammen, und er wird zu einem Fisch, der am Haken zieht, an der Angelschnur, gegen etwas kämpft, das viel stärker ist als er. Und dann ist es vorbei, und er blinzelt und schaut weg.
»Er hat mehr als eine, Leonie. Die Kids haben auch mehr als eine«, sagt Pop, und dann entfernt er sich von mir und ruft nach Jojo. »Junge«, sagt er. »Junge. Komm mal her.«
Die Hintertür knallt zu.
»Wo bist du, Junge?«
Es klingt wie eine Umarmung, so als würde Pop es singen.
»Michael kommt morgen raus.«
Mama drückt die Handflächen aufs Bett, zieht die Schultern hoch und versucht, ihr Becken zu heben. Sie verzieht das Gesicht.
»Tatsächlich?« Ihre Stimme ist leise. Nur ein Hauch.
»Ja.«
Sie lässt sich zurück ins Bett fallen.
»Wo ist dein Pop?«
»Draußen, mit Jojo.«
»Ich brauche ihn.«
»Ich muss noch einkaufen. Ich sag ihm Bescheid.«
Mama kratzt sich am Kopf und atmet hörbar aus. Ihre Augen schließen sich zu Schlitzen.
»Wer holt Michael ab?«
»Ich.«
»Und wer noch?«
»Die Kinder.«
Jetzt schaut sie mich wieder an. Ich wünschte, ich könnte das zischende Brennen wieder spüren, aber ich bin jetzt ganz runter und fühle mich nur noch leer. Hohl und ausgetrocknet. Beraubt.
»Deine Freundin fährt nicht mit?«
Sie meint Misty. Unsere Männer sind im gleichen Gefängnis, daher fahren wir alle vier Monate zusammen hoch. Ich hatte gar nicht dran gedacht, sie zu fragen.
»Ich hab sie nicht gefragt.«
Hier auf dem Land aufzuwachsen, hat mich einiges gelehrt. Zum Beispiel, dass nach dem ersten großen Überschwang des Lebens die Zeit an allem nagt: Sie lässt Maschinen rosten, Tiere so altern, dass sie Fell und Federn verlieren, sie lässt Pflanzen welken. Etwa einmal im Jahr sehe ich es auch bei Pop, sehe, wie er mit den Jahren immer schlanker wird, wie die Sehnen hervortreten und mit jedem Jahr fester und steifer werden. Wie seine indianischen Wangenknochen deutlicher hervortreten. Aber seit Mama krank ist, habe ich gelernt, dass Schmerzen das auch bewirken können. Sie können einen Menschen auffressen, bis er nur noch Haut und Knochen ist, mit einer Maserung aus Blut. Können einem die Eingeweide wegzehren und einen an den falschen Stellen anschwellen lassen: Mamas Füße unter der Decke sehen aus wie Ballons, die zum Bersten voll mit Wasser sind.
»Solltest du tun.«
Ich glaube, Mama versucht, sich auf die Seite zu drehen, ich sehe, wie sie sich anstrengt, aber dann rollt einfach nur ihr Kopf zur Seite, und sie schaut die Wand an.
»Mach den Ventilator an«, sagt sie, also rücke ich Pops Stuhl weg und schalte den Kastenventilator ein, der im Fenster klemmt. Die Luft bläst heulend durchs Zimmer, und Mama dreht das Gesicht wieder mir zu.
»Du fragst dich bestimmt…«, sagt sie und hält inne. Ihre Lippen sind dünn. Daran erkenne ich es am deutlichsten. An ihren Lippen, die immer voll und weich waren, vor allem, als ich noch ein kleines Mädchen war und sie mich auf die Schläfe geküsst hat. Oder auf den Ellbogen. Die Hand. Manchmal, nach dem Baden, sogar auf die Zehen. Jetzt sind diese Lippen in dem eingesunkenen Areal ihres Gesichts nur noch farblich abweichende Hautstellen.
»… warum ich nicht schimpfe.«
»Ein bisschen«, sage ich. Sie schaut auf ihre Zehen.
»Pop is stur. Du bist stur.«
Ihr Atem geht stotternd, und mir wird klar, dass es ein Lachen ist. Ein mattes Lachen.
»Ihr regt euch immer auf«, sagt sie.
Sie schließt wieder die Augen. Ihr Haar ist so schütter, dass ich ihre Kopfhaut sehen kann: blass, von blauen Adern durchzogen, wellig und furchig, uneben wie eine selbstgetöpferte Schale.
»Du bist jetzt erwachsen«, sagt sie.
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