Название: Klausurenkurs im Öffentlichen Wirtschaftsrecht
Автор: Stefan Storr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Schwerpunkte Klausurenkurs
isbn: 9783811469044
isbn:
VII. Art. 352 AEUV – Flexibilitätsklausel
18
Auf der Grundlage der Flexibilitätsklausel kann die Union Rechtsakte erlassen, wenn ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich erscheint, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und wenn in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind (Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV).
Art. 352 AEUV reicht deutlich weiter als die alte Kompetenzabrundungsklausel Art. 308 EG. Die alte Kompetenzabrundungsklausel war auf die Zielverwirklichung im Rahmen des Gemeinsamen Marktes beschränkt, nun genügt bereits, dass ein Tätigwerden der Union „im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche“ erforderlich erscheint. Das BVerfG geht im Lissabon-Urteil davon aus, dass die Vorschrift dazu dienen kann, im nahezu gesamten Anwendungsbereich des Primärrechts eine Zuständigkeit zu schaffen, die ein Handeln auf europäischer Ebene ermöglicht.[11]
Gleichwohl dürfen die auf der Flexibilitätsklausel beruhenden Maßnahmen keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den Fällen beinhalten, in denen die Verträge eine solche Harmonisierung ausschließen (Art. 352 Abs. 3 AEUV). Genau das regelt aber Art. 168 Abs. 5 AEUV im Bereich des Gesundheitsschutzes.
Außerdem sind die Verfahrensvorschriften nicht eingehalten: Aus dem Sachverhalt ist nicht zu entnehmen, dass die Kommission den Deutschen Bundestag und den Bundesrat nach Art. 352 Abs. 2 AEUV im Rahmen des Verfahrens zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 5 Abs. 3 EUV auf die Vorschläge aufmerksam gemacht hätte. Zudem haben der Deutsche Bundestag und der Bundesrat der Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung nicht nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG zugestimmt. Das aber verlangt das BVerfG, weil die Flexibilitätsklausel in ihrem Anwendungsbereich unbestimmt ist und im nahezu gesamten Anwendungsbereich des Primärrechts eine Zuständigkeit der Union schaffen kann. Die Übertragung einer Blankettermächtigung auf die Union wäre verfassungsrechtlich unzulässig.
Im Ergebnis scheidet Art. 352 AEUV als Rechtsgrundlage aus.
VIII. Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, Art. 5 Abs. 3 EUV
19
Wie ausgeführt kommt der Union allenfalls für die Harmonisierung des Pressemarktes und anderer Medien eine vertragliche Rechtsgrundlage zu. Hierfür ist das Vorliegen der Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips zu prüfen.
Das in Art. 5 Abs. 3 EUV geregelte Subsidiaritätsprinzip stellt nach mittlerweile herrschender Meinung eine Kompetenzausübungsregelung dar, dh es bestimmt, in welchen Fällen die Union von einer ihr durch den Vertrag zugewiesenen Kompetenz Gebrauch machen darf.
1. Ausschließliche Zuständigkeit der Union?
20
Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 3 EUV ist zunächst, dass die beanstandete Regelung nicht einen Bereich betrifft, der in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fällt. Die Rechtsangleichung auf der Grundlage von Art. 114 Abs. 1 AEUV gehört nicht zur ausschließlichen Zuständigkeit der Union (Art. 3 AEUV).
2. „Nicht ausreichend“ auf mitgliedstaatlicher Ebene; „besser“ auf Unionsebene
21
Ferner müssen die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten, Regionen oder Kommunen nicht ausreichend und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene erreicht werden können. Der EuGH[12] sieht hierin und entgegen dem eindeutigen Wortlaut nicht zwei, sondern lediglich eine einzige Voraussetzung.
Hier ist zu bedenken, dass – obwohl die grundsätzliche Justiziabilität nach Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls besteht – diese Vorschrift dem Unionsgesetzgeber gerade bei der Einschätzung der Wirksamkeit von geplanten Maßnahmen einen weiten Gestaltungsspielraum eröffnet. Insoweit hat der EuGH bereits die heterogene Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften als hinreichendes Argument dafür gelten lassen, dass eine Maßnahme auf Unionsebene besser als auf mitgliedstaatlicher Ebene erreicht werden kann.[13]
Mit dem Lissabon-Vertrag wurden die verfahrensrechtlichen Vorgaben erheblich erweitert: Die Kommission muss zunächst umfangreiche Anhörungen durchführen (Art. 2 Subsidiaritätsprotokoll) und ihre Gesetzesentwürfe dem Unionsgesetzgeber und den nationalen Parlamenten gleichzeitig zuleiten (Art. 4 Abs. 1 Subsidiaritätsprotokoll). Diese Entwürfe sind zu begründen (Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll). Den mitgliedstaatlichen Parlamenten kommt die Befugnis zu, binnen acht Wochen eine begründete Stellungnahme abzugeben (Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll). Daran schließt sich ein „Verhinderungsverfahren“ an (Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll). Hier hat die Kommission ihren Vorschlag für eine Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung weder dem öffentlichen Anhörungsverfahren unterzogen, noch diesen den nationalen Parlamenten vorher mitgeteilt. Die Verordnung ist deshalb rechtswidrig zustande gekommen.
B. Verstoß gegen die Grundrechte
I. Rechtsgrundlage der europäischen Grundrechte
22
Nach Art. 6 Abs. 1 EUV erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der GRC niedergelegt sind.
Die GRC gilt für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC). Die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ist eine Maßnahme der Union und deshalb an den europäischen Grundrechten zu messen. Auch soweit die Mitgliedstaaten im Vollzugswege die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung durchzuführen haben, sind sie an die europäischen Grundrechte gebunden.
II. Meinungsfreiheit
1. Schutzbereich
23
Art. 11 GRC bestimmt, dass jede Person das Recht auf freie Meinungsäußerung hat. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.
Nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Deshalb hat die EMRK bei der Bestimmung der Rechte, die das Unionsrecht schützt, und des Umfanges des gewährten Schutzes besondere Bedeutung als Inspirationsquelle (vgl. a. Art. 52 Abs. 3 GRC).
Nach der Rechtsprechung des EGMR verdienen alle Formen der Meinungsäußerung Schutz nach Art. 10 Abs. 1 EMRK.[14] Dazu gehören auch Informationen wirtschaftlicher Natur, also die Verbreitung von Informationen, die Äußerung von Ideen oder die Verbreitung von Bildern als Teil der Verkaufsförderung einer Wirtschaftstätigkeit und das entsprechende Recht, solche Mitteilungen zu empfangen.[15] Informationen wirtschaftlicher Art tragen zwar nicht in derselben Weise wie politische, journalistische, literarische oder künstlerische Meinungen in einer liberalen demokratischen Gesellschaft zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele bei, persönliche Rechte werden jedoch als Grundrechte nicht nur wegen ihrer instrumentalen, gesellschaftlichen Funktion anerkannt, sondern auch, weil sie für die Autonomie, die Würde und die Persönlichkeitsentwicklung СКАЧАТЬ