Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Almut Hille
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СКАЧАТЬ style="font-size:15px;">      Textbeispiel

      „Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird immer enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte. Ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe“ – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie auf.5

      In den genannten Sammlungen finden sich eine Fülle von Texten und Vermittlungsvorschlägen, die von allgemeinen Hinweisen zur Arbeit mit literarischen Texten bis hin zu Vorschlägen für ihre Verwendung in konkreten unterrichtlichen Zusammenhängen reichen. Sie alle zielen auf ein Lernen grammatischer Strukturen der deutschen Sprache und sind meist vorrangig für den Unterricht auf A1- und A2-Niveau geeignet.

      Die Konzepte, die wir im Folgenden vorstellen, möchten die Lernenden darüber hinaus anregen, mögliche Funktionen und Wirkungen sprachlicher Strukturen bzw. Mittel wahrzunehmen und zu reflektieren; sie sind entsprechend für alle Sprachniveaus relevant.

      So legt Nils Bernstein (2015) den Fokus bei seinen Vorschlägen, wie man Lyrik für sprachliches Lernen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache lohnend verwenden kann, weniger auf das Einüben und die Reflexion von sprachlicher Korrektheit als auf die Reflexion literarischer Strukturen in der Alltagssprache. Wie Weinrich rekurriert auch er auf Šklovskijs Konzept der Verfremdung (→ Kap. 1) und zitiert aus dessen Text Die Kunst als Verfahren (Šklovskij 1994):

      Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht nur Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden […]. (Šklovskij 1994: 15, Hervorh. i.O.)

      Bernstein zeigt, wie durch die Auseinandersetzung mit den sogenannten Kassenbongedichten von Susann Körner „der neue Blick auf Vertrautes gefördert und für literarische Sprache in nicht-literarischem Kontext sensibilisiert“ (Bernstein 2015: 234) wird. Körner selbst beschreibt das Entstehen ihrer Gedichte so:

      Irgendwann fing es an. Beim Überfliegen von Kassenbons entdeckte ich Worte, die aus einer eigenen Sprache zu kommen schienen. Ich begann, herumliegende Bons zu sammeln. Es entstand die Idee, so einzukaufen, dass ein Gedicht entsteht. (Homepage der Autorin: www.susannkoerner.de [17.16.2021])

      Diese Gedichte oszillieren zwischen ihrer auffälligen sprachlichen Verfasstheit und ihrem Ort in der Alltagspragmatik des Einkaufens und fungieren so als Lyrik jenseits von „anthropologische[n] Grundthemen wie ‚Liebe, Tod, Rausch, Wahnsinn, Traum‘“ (Bernstein 2015: 234).6 Der Kassenbon – eigentlich eine sachliche, lediglich registrierende und listenartige Form und eine Textart, mit der Lernende im Alltag durchweg konfrontiert werden und die ob ihrer Ubiquität meistens unter dem Radar der eigenen Wahrnehmung bleibt, zumal wenn es sich um Kassenbons in Supermärkten beim Einkauf von Lebensmitteln handelt – wird zum literarischen Text, zum Gedicht. Die „Kassenbonsprache als Alltagsphänomen“ (ebd.) begegnet hier als lyrischer Text, wenn er auch als solcher zuweilen nur dadurch zu erkennen ist, dass er in einer Gedichtsammlung veröffentlicht ist. Oft werden „poetische Merkmale wie Reim oder Wiederholung“ (ebd.) bei diesen Gedichten erst durch lautes Vorlesen – der Produktnamen – wahrnehmbar:

      Unterrichtsidee

      Abb. 1:

      Susann Körner, Felix Kabeljau (2010)

      Abb. 2:

      Susann Körner, Est, Est, Est (2001)

      Wie Bernstein zum zweiten Beispiel ausführt, „lässt sich die Marke ‚Est!Est!Est!‘ als Imperativ zum Verb essen auffassen, als hemmungslosen Aufruf zum Konsum, der jedoch wieder aufgehoben wird, durch eine implizit im abschließenden Vers enthaltene Aufforderung zu maßvollerem, sparsamem Verhalten“ (ebd.: 236, Hervorh. i.O.).

      Bleiben diese Texte Gedichte, wenn man sie aus dem Rahmen „Kassenbon“ herausnimmt, Informationen wie Name und Adresse des Ladens sowie das Datum des Einkaufs entfernt? Oder werden sie erst dann zum Gedicht? Das diskutiert Bernstein mit seinen Studierenden und damit die Frage danach, wie sich Lyrik bestimmen lässt. Er verweist hier auch auf Peter Handkes Text Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968, dessen Lektüre diese Frage ebenfalls aufwirft (→ Kap. 1).

      Es ist fraglich, ob die Texte Zugang zu grammatischen Strukturen und Wortschatz ermöglichen. Sicherlich können sie jedoch Prozesse bewusster Wahrnehmung von Sprache in Alltagssituationen initiieren und so zum sprachlichen Lernen im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache beitragen. Damit lässt sich etwas von dem einlösen, was Harald Weinrich sehr früh für den Fremdsprachenunterricht eingefordert hat: eine Didaktik, die eine „Ästhetik des Alltags“ (Weinrich 1985a: 241) berücksichtigt und eine Didaktik, die dazu führt, dass „wir nicht nur die Sprachen mit Interesse sprechen, sondern auch unsere Umwelt mit Überraschung sehen lernen“ (ebd.).

      Zugänge zu literarischen Texten, die auf die Auseinandersetzung mit der Funktion und mit möglichen Wirkungen der verwendeten sprachlichen Mittel ausgerichtet sind und auf Sensibilisierungen für Bedeutungsbildungsprozesse zielen, die von diesen initiiert werden, können sehr unterschiedlich sein. Dies lässt sich an einem Gedicht zeigen, das im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache immer wieder Aufmerksamkeit findet, in der theoretischen Diskussion wie in unterrichtspraktischen Zusammenhängen: Wandrers Nachtlied von Johann Wolfgang von Goethe, im September 1780 entstanden und zunächst auf die Bretterwand einer Schutzhütte auf dem Kickelhahn geschrieben, einem Berg im Thüringer Wald in der Nähe von Ilmenau, wo Goethe als Bergbaubeauftragter unterwegs war. Schon in der Literaturwissenschaft kommt ihm eine zentrale Stellung zu. Unzählige Analysen und Übersetzungen sind zu diesem Gedicht erschienen; es zählt zu den kanonisierten Texten (→ Kap. 3) in der Germanistik im deutschsprachigen Raum wie darüber hinaus.7

      Unterrichtsidee

      Über allen Gipfeln

      Ist Ruhʼ,

      In allen Wipfeln

      Spürest du

      Kaum einen Hauch;

      Die Vögelein schweigen im Walde.

      Warte nur! Balde

      Ruhest du auch. (Goethe 1987/1780: 65)

      Zunächst stellen wir einen Lektürevorschlag von Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck (2011) vor, die den Fokus auf die Sensibilisierung für die lautliche Ebene der Sprache legen, die sie als einen „genuin literarischen Aspekt der Sprache“ (2011: 49) verstehen (→ auch Šlibar in Kap. 18). Ihr Vorschlag kann ab dem Sprachniveau A2 eingesetzt werden und umfasst verschiedene Aktivitäten, bei denen es darum geht, sich mit der klanglichen Struktur des Gedichts zu beschäftigen, etwa mit Reimen und mit Lauten, die durch ihr häufiges Vorkommen auffallen (→ Kap. 1). So schlagen sie vor, das Gedicht zunächst nicht vollständig zu präsentieren, sondern etwa die Reimwörter СКАЧАТЬ