Название: Die Seele
Автор: Johanna Haberer
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783532600825
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Gott, der seine Geschöpfe lebendig macht und in Bewegung bringt, drückt seine Schöpfermacht aus in einem Zwischenraum. Gott ist in der Lücke.
Künstler und Handwerker haben ein Gespür für das unsichtbar Wirkende, das die Seele ausmacht. Dosso Dossi malt in der Zeit zwischen 1525 und 1530 das Gemälde „Jupiter, Merkur und die Tugend“. In einem Ausschnitt wird der Schöpfer Jupiter als Künstler dargestellt, der die Seelen der Menschen zum Leben erweckt, indem er sie als Schmetterlinge malt. Neben dem seiner Malerei zugewandten Jupiter sitzt der Götterbote Hermes und wendet sich dem Betrachter zu. Er legt den Zeigefinger auf den Mund und gemahnt den Betrachter, über das Wunder der Seele zu schweigen.
Die Seele ist dabei das Unsagbare oder eben der freie Raum, der die Form einer Gestalt vorgibt: So nennen Architekten bei der Wendeltreppe jenen freien (oder tragenden) Teil, um den sich die Stufen spiralförmig winden, die Seele. Auch der eingedrehte dünne Strang im Kern eines Seils wird Seele genannt, bei Geschützen wird der Hohlraum im Lauf als Seele bezeichnet. Goldschmiede nennen den Raum, um den herum ein Gefäß entsteht, Seele. Und das Innere einer Trachealkanüle, die man auf der Intensivstation Menschen in die Lunge einführt, die nicht mehr atmen können, nennt man Seele. Diese „Seele“ ist ein Einmalprodukt.
Das Wort Seele beschreibt also das formgebende Ungeformte, von dem schon der griechische Philosoph Aristoteles sprach, aber auch die Zielgerichtetheit, die Energie, Durchschlagskraft und Dynamik, die das Bild vom Hohlraum des Geschützes assoziiert, den Roten Faden einer Sache oder eines Menschen, und auch die gedachte und vorgestellte innere Form.
Zerbricht das Gefäß, bleiben nichts als Scherben. Stürzt die Wendeltreppe ein, ist auch das Nichts, das ihr die Form verliehen hat, dahin. Dröselt man ein Seil auf, bleibt bloß Fadengewirr, und wird das Geschütz umgeschmiedet, verschwinden Richtung und Ziel.
Auch die innere Achse der Spirale, der Helix, trägt den Namen Seele und gemahnt an die Form der DNA, des biologischen Bauplans allen Lebens. Sie macht einen jeden Menschen unverwechselbar. Wenn der Mensch stirbt, kann sie noch lange nachgewiesen werden. Dann aber zerfällt sie zu nichts.
Seele meint also das unsichtbare Unbekannte, ohne das alles Lebendige nichts ist. Meint das undefinierbare Etwas, das aus Teilen ein lebendiges Ganzes macht. Der chinesische Philosoph Lao-Tse, Begründer des Daoismus oder der „Lehre vom Weg“ vor zweieinhalb Jahrtausenden, formuliert in seinem Buch vom Weg die prägende Bedeutung dieses Nichts, das er „Nutzen“ nennt.
Dreißig Speichen umringen die Nabe
Wo nichts ist
Liegt der Nutzen des Rads
Aus Ton formt der Töpfer den Topf
Wo er hohl ist
Liegt der Nutzen des Topfs
Tür und Fenster höhlen die Wände
Wo es leer bleibt
Liegt der Nutzen des Hauses
So bringt Seiendes Gewinn
Doch Nichtseiendes Nutzen9
Wie von etwas reden, das es nicht gibt, und das dennoch intuitiv erfahren wird als „Nichts, ohne das alles nichts wäre“? Entsprechend metaphorisch ist die Rede von der Seele in ihren kulturellen Zusammenhängen. Sie wird symbolisiert im Schmetterling, der aus der Raupenhülle kriechend seine Gestalt ändert, sie nimmt Gestalt an als Brücke und Pfeil, als Vogel, als Feuer, Luft und Atem, als Sprache und Musik. Sie steht für das Unbewusste, die Sprache des Traums und der Passagen des menschlichen Geistes in innere Welten.
Ja, man könnte das Wort „Seele“ selbst als Metapher beschreiben für das Leben in seinen inneren Zusammenhängen, als die Bewegung des Menschen in das Andere hinein.
Der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad hat in seinem Buch die „Die Seele im 20. Jahrhundert“ von 2019 gezeigt, wie sich im 19. und 20. Jahrhundert die Seelendiskurse neu organisierten – vorbei an der „Wissenschaft von der Seele“, der Psychologie. In deren Wörterbüchern, Lehrbüchern und Datenbanken ist das Wort „Seele“ oder „Soul“ nicht mehr zu finden. Die Seele wird in die semantischen Landschaften der Religion verwiesen. Dabei wäre möglicherweise gerade der Seelenbegriff geeignet, den Riss zwischen den empirischen Lebenswissenschaften und den Geisteswissenschaften, insbesondere der Philosophie und der Theologie, zu überbrücken. Die Neuro- und Kognitionswissenschaften, die einem naturwissenschaftlichempirischen Paradigma folgen, müssten sich nicht mehr in einer seelenlosen Echokammer bewegen. Und die Seele wäre ein Schlüsselbegriff, unter dem sich die unterschiedlichen Denkansätze der Lebens- und der Geisteswissenschaft treffen könnten.10 Der Verlust des Seelenbegriffs hat in den letzten hundert Jahren nämlich dazu geführt, dass sich die esoterischen Diskurse und Denkfiguren weitab von der naturwissenschaftlichen Erkenntnis trotzig behauptet haben. Manchmal mit absurden Auswüchsen.
Ob man sich mit okkultischen Bewegungen befasst oder den Schamanismus neu entdeckt, ob man die religiösen Perspektiven der Punk-, Gothic- oder Hare-Krishna-Bewegungen in den Blick nimmt oder in der Religionsforschung Phänomene wie Rausch, Ekstase und Tanz behandelt – bei all diesen Bewegungen steht die Frage nach dem Ganzen und dessen Vergänglichkeit im Zentrum. Auch spirituelle Bewegungen, die die Heiligkeit der Natur wiederentdecken, vom Naturschutz bis zum Bäume-Umarmen, haben global Anhänger gewonnen, die – siehe die Aktivisten von Greenpeace oder Sea Shepherd – auch einen politischen Flügel entwickeln.
Aber auch bei der Entdeckung systemischer Zusammenhänge der belebten Natur in den ökologischen Bewegungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts liegt die Frage nach der Sakralisierung der Natur ganz vorne. Die sogenannte „grüne Religion“ verbindet geisteswissenschaftliche und auch theologische Aspekte mit den neueren Naturwissenschaften, die in interdisziplinären Zugängen versuchen, die Dynamiken des Lebens und ihrer inneren Zusammenhänge zu erfassen. Insofern könnte es die konkurrierenden Weltanschauungen versöhnen, wenn man sich des Begriffs der Seele neu entsänne – nicht als physikalisch messbare Entität, nicht als innermenschlicher Herrschaftsraum der Bischöfe und Päpste, sondern als Begriff für das System der Lebendigkeit. Ein Begriff der Seele, der im Inneren die Welt nach einem dynamischen Prinzip der Resonanz zusammenhält.
Die Spur der Worte
Der Begriff „Seele“ mag zwar aus den naturwissenschaftlichen und auch den wissenschaftlichtheologischen Sprachräumen ausgewandert sein, doch ist er in der Alltagssprache der Menschen unverändert vital. Wir sprechen, wenn wir von „Seele“ sprechen, immer von etwas anderem als dem Körper. Seele meint etwas, das über unsere körperliche Befindlichkeit hinausgeht.
Seele ist nunmehr ein Dach- oder Schirmbegriff, der nicht eine eigene Entität beschreibt, sondern unbestimmte, aber nachvollziehbare Dimensionen des Fühlens und des impliziten Wissens. Seele beschreibt also Dimensionen der Innerlichkeit, der Unkörperlichkeit, der Wesentlichkeit, möglicherweise der Unsterblichkeit und sicher der Unfassbarkeit.
Nach wie vor sprechen wir davon, dass zwei Menschen „ein Herz und eine Seele“ sind, sich „seelenverwandt“ fühlen, ein Gebäude „seelenlos“ wirkt oder mir jemand „aus der Seele“ spricht. СКАЧАТЬ