Название: Lebendige Seelsorge 3/2019
Автор: Verlag Echter
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783429064235
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Stampft sie dort mit auftrumpfender Selbstgerechtigkeit auf, ihr könne aufgrund Gottes Beistands nichts passieren, wird sie unversehens über die Kante treten und abstürzen. Erst wenn sie ihre revanchistische Identitätsmatrize opfert, also demütig wird, erschließen sich weiterführende Wege weg von der Kante. Ein Angriffsmodus gegen andere bringt sie nicht gegen eigene Scheinheiligkeit voran. Es genügt daher nicht, sich auf klerikalen Machtmissbrauch zu fokussieren, weil bereits der Machtgebrauch einer sich überlegen fühlenden Identität in das Missbrauchsproblem verstrickt ist. Sie schiebt Opfer dorthin ab, worüber Gayatri Spivak fragt: „Can the subaltern speak?“ (Spivak). Subaltern ist, wer spricht, aber nichts zu sagen hat, was andere erfassen wollen/können, ohne dass diese damit eigene Machtinteressen verbinden. Subalterne werden in der Regel dem geopfert, was diese Interessen nach vorne bringt.
Betroffene sexualisierter Gewalt sind in der Kirche Subalterne. Sie sprechen, aber kommen mit ihren Anliegen nicht zu Wort, obwohl ihr Fall von rechts wie links aufgegriffen wird, also von jenen, die immer schon reformorientiert waren, sowie jenen, die es nicht lassen wollen, bigott zu moralisieren. Beide bringen jeweils ihre längst vorhandene Agenda vor. Was im normalen kirchenpolitischen Streit legitim wäre, verkennt die schwarze Tiefe der Erschütterung. Es geht nicht bloß darum, wie Kirche gestaltet werden muss, sondern ob sie erhalten werden kann.
Der sexuelle Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, Nonnen durch priesterliches Führungspersonal ist nicht einfach ein Unfall der Kirchengeschichte, die sich bald wieder in erhabener Reinheit erheben wird. Er ist auch kein Beleg für sattsam bekannte Reformen, so sehr sie längst überfällig sind. Er bringt vielmehr die Souveränität zum Einsturz, an der sich die Selbstidentifizierung dieser Kirche als übernatürlicher Staat aufgehängt hat: „[U]nd – was höchst wichtig ist – sie ist eine ihrer Art und ihrem Recht nach vollkommene Gesellschaft (societas perfecta), da sie die für ihre Erhaltung und Tätigkeit notwendigen Hilfsmittel nach dem Willen und durch die Wohltat ihres Gründers alle in sich und durch sich selbst besitzt“ (Leo XIII., Enzyklika Immortale Dei, DH 3167).
Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Identitätsmatrix dieser neuzeitlich-modernen Proklamation zum Staat, was societas perfecta nun einmal bedeutet, weder bestätigt noch übernommen. Aber es hat mit sich machen lassen, dass die Selbstverstaatlichung den kirchlichen Machtanspruch nicht auflösen musste, wie die Notae praevia zu Lumen gentium belegen.
Das war ein Fehler, der sich in den Skandalen des sexuellen Missbrauchs bitter rächt. Er ist nicht von außen ausgelöst, er konnte sich vielmehr deshalb mitten in der Kirche ausbreiten, weil er an der Phobie ihrer Eigenstaatlichkeit kapitalisieren konnte. Denn um der Erhaltung ihrer Macht willen darf nur das sichtbar werden, was für Kirche spricht, während alles, was gegen sie spricht, ebenso verschämt wie schamlos zu verheimlichen ist. Zugleich ist nichts in diesem Anspruch vorhanden, was für die Bewältigung dieser innerkirchlichen Verletzungen von Menschenrechten benötigt wird: weltliches Strafrecht, kritische Öffentlichkeit, unabhängige Erforschung der Personalakten und nicht zuletzt der riskante Bruch von Verschwiegenheitsversprechen, die kirchliche Repräsentanten mit Opfern des Missbrauchs vereinbart haben. Ohne das werden weder die gewaltigen Ausmaße des Problems sichtbar, noch ist der Anfang eines Anfangs zu setzen, über die Demütigung hinauszukommen.
Die Kirche benötigt daher eine andere Souveränität als die utopische Selbstverheiligung, welche die Grammatik ihrer Identitätspolitik seit Johannes Paul II. ausmachte. Sie kann sich dabei nicht zuletzt an der unheiligen Trinität der dreifachen Scham orientieren, aus der ihr sexueller Missbrauch besteht. Weder die Unverschämtheit der Täter noch die Schamlosigkeit der Vertuscher helfen, den selbstbezogenen Relationen ihrer Selbstverstaatlichung zu entkommen, mit denen sie niemals über Scheinheiligkeit hinwegkommt. Es bleibt ihr aber die Scham der Opfer, die es den Betroffenen entsetzlich schwermacht, die erlittene sexualisierte Gewalt überhaupt zur Sprache zu bringen.
Die Kirche benötigt eine andere Souveränität als die utopische Selbstverheiligung.
Dort aber, wo das dennoch geschieht, sprechen Subalterne in einer Weise, die erst bei einer gedemütigten Souveränität der Kirche zu Wort kommt. Dann öffnen sie Kontaktzonen zu dem, was in einem doppelten Sinn des Wortes unerhört ist und mit Sara Ahmed „strange encounters“ genannt werden kann: eine befremdliche Begegnung unter der Voraussetzung der „absence of a knowledgde that would allow one to control the encounter, or to predict its outcome“ (Ahmed, 8).
Die Opfer des Missbrauchs sind für die Kirche keine aliens, gefährliche Fremde aus anderen Welten, gegen deren verwundete körperliche Präsenz allein klare Kanten katholischer Disziplin helfen. Sie sind vielmehr befremdlich andere, die die Kirche aber verführt hat, sich auf Kirche zu ihrem Schaden einzulassen, und deren körperliche Präsenz deshalb daran erinnert, wie weit Kirche selbst von dem entfernt ist, wozu sie eigentlich da ist – Menschen den Himmel aufzuschließen.
Diese Lücke kann sie erst dann verkleinern, wenn sie sich darauf einlässt, dass es jenseits ihrer Kontrolle ist, die Lücke hinter sich zu lassen. Denn der Schlüssel ist nicht mehr in ihrem Besitz, sondern im sexuellen Missbrauch verloren gegangen. In strange encounters mit Betroffenen kann sie erfahren, wo nach ihm zu suchen wäre. Sie haben den Schlüssel nicht versteckt, aber sie wissen, wo er sicher nicht zu finden ist: in Unverschämtheit und Schamlosigkeit von Missbrauchen und Vertuschen. Erst wenn die Ohnmacht der Scham geteilt wird, die Betroffenen ins Leben ragt, und ihnen von der Kirche sichtbar geglaubt wird, wird ein Raum geöffnet, ihn wieder zu erhalten.
LITERATUR
Ahmed, Sarah, Strange Encounters. Embodied Others in Post-Coloniality, London 2000.
Kepel, Gilles, Die Rache Gottes – La revanche de Dieu. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 2001.
Papst Franziskus, Ansprache am Ende des Treffens „Der Schutz von Minderjährigen in der Kirche“, Sala Regia, Sonntag, 24. Februar 2019 (http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2019/february/documents/papa-francesco_20190224_incontro-protezioneminorichiusura.html).
Spivak, Gayatri Chakravorty, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Engl. von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, Wien 2008.
Die zentrale Erkenntnis aus den Geschichten Betroffener
Die Replik von Doris Reisinger auf Hans-Joachim Sander
Wer sich in einer Krise befindet, neigt zur Blickfeldverengung. Die Gedanken und Diskussionen drehen sich im Kreis um die eigene Misere. Das ist nicht nur zermürbend, sondern auch fruchtlos. Von daher ist es ebenso erfrischend wie erhellend, die sich im Grunde seit Jahrzehnten kontinuierlich zuspitzende Kirchenkrise in große geschichtliche Kontexte zu stellen. Wenn man sie parallel zu Entwicklungen sieht, die ähnlich aufgebaute Institutionen und Gemeinschaften in der Moderne erleben, dann sieht man, dass wir in Teilen der katholischen Kirche eine religiöse Radikalisierungsbewegung erleben, die es in den vergangenen Jahrzehnten bis heute so ähnlich auch in protestantischen Konfessionen, im Islam und im orthodoxen Judentum gibt, und die im Kern aus einer Abgrenzung anfangs kleiner fanatischer Splittergruppen von Liberalisierungsbewegungen innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaft bestehen. Diese Parallele nimmt der von Sander zitierte französische Soziologe Gilles Kepel in den Blick.
Oder man sieht, dass diese moderne Entwicklung, die religiöse Extremisten so sehr beunruhigt – gerade auch im Katholizismus –, die aber der überwiegende Teil der Gläubigen mit großer Selbstverständlichkeit und Überzeugung vollzieht, schlicht ein in der Aufklärung grundgelegter und im besten Sinne vernünftiger Wandel weg von einem heteronomen hin СКАЧАТЬ