Название: Lebendige Seelsorge 6/2020
Автор: Verlag Echter
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783429064761
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Vor allem die Caritas hat aber auch die andere Seite deutlich gemacht: Eine solche Krise fordert noch stärker heraus, die christliche Solidarität mit den Ärmsten nicht zu vergessen – und dabei den Horizont nicht einzuschränken auf die Armut in der unmittelbaren Nähe, sondern weiterhin ebenso auf die Ärmsten im größeren Umfeld zu schauen. Denn das Leid und das Sterben an den EU-Außengrenzen hat ebenso wenig aufgehört wie die Hungersnöte in Afrika oder die Verfolgungen in anderen Ländern. Vor allem darf diese Situation nicht schöngeredet werden: Als „Chance“; als Möglichkeit, sich auf „das Wesentliche“ zu konzentrieren; als die Gelegenheit, mehr Zeit in der Partnerschaft zu verbringen etc. Das mag für einzelne durchaus auch stimmen. Was aber ist mit jenen, denen es effektiv dreckig geht? Denen daheim die Decke auf den Kopf fällt? Die nicht die Kraft und Lust haben, zum Hörer zu greifen und sich ihr Leid ‚von der Seele‘ zu reden?
AUSWEITUNG DES SEELSORGEVERSTÄNDNISSES
Seelsorge hat hier vor allem mit dem Aufmerksam werden zu tun, wo jene Menschen sind, die Hilfe brauchen – und eben nicht nur mit dem Warten, dass sich jemand von sich aus rührt und kommt (so wichtig es ist, dass Menschen auch wissen, wohin und an wen sie sich wenden können!). Das Nachfragen ist dabei möglicherweise verbunden mit der Erfahrung der Abweisung; aber dennoch: SeelsorgerIn sein heißt hier, sich auszusetzen und auch mit Ablehnung der angebotenen Hilfe zu rechnen. Hier wird nochmals eine eigenartige Nomenklatur in der römisch-katholischen Kirche deutlich: Dass immer noch häufig mit Seelsorgern nur die Kleriker gemeint sind – obwohl seit vielen Jahren Laien als Krankenhaus-SeelsorgerInnen und in anderen kategorialen Bereichen eingesetzt sind. Und obwohl viele PastoralreferentInnen und –assistentInnen sich auch SeelsorgerInnen nennen (dürfen). Dennoch wird Seelsorge immer noch eher hierarchisch gesehen und von Hauptamtlichen erwartet. Was es nun jedoch braucht, ist die Förderung der Kompetenz aller Christinnen und Christen, selbst Seelsorgerinnen und Seelsorger zu sein. Denn der eigentliche Seelsorger ist Gott selbst – doch die Sorge um das Heil des Nächsten ist nichts, was nur Hauptamtlichen zukommt oder nur von ihnen zu erwarten ist. In Ergänzung zur liturgischen Hauskirche ist auch Seelsorge einer der Aufträge an ChristInnen für ihren Lebensbereich. So sagt es Stefan Knobloch: Es ist notwendig, dass man „in der Zeit der Fragmentierung und Pluralisierung des Lebens die Menschen in ihren Lebenserfahrungen ernst nimmt und sie selbst die Trägerinnen und Träger der Seelsorge sein läßt“ (Knobloch, 35).
Ein wesentlicher Punkt ist dabei, dass das Bilden und Fördern von Netzwerken für die Seelsorge noch bedeutsamer wird: Die Kooperation mit Personen im Krankenhaus für die Krankenseelsorge; mit Personen des AMS (Arbeitsmarktservice) oder anderen Einrichtungen für die Hilfestellungen für Arbeitslose; die Kooperation mit psychosozialen Diensten etc. Die Pandemie zeigt hier deutlich auf, wo solche Netzwerke schon funktionieren – und wo es noch Nachholbedarf gibt.
SOLIDARITÄT UND HOFFNUNG
Aus der Papstansprache vom 27. März 2020 am verregneten Petersplatz, im Angesicht des uralten Pestkreuzes, ist mir ein Satz zentral: „Der Herr fordert uns heraus, und inmitten des Sturms lädt er uns ein, Solidarität und Hoffnung zu wecken und zu aktivieren, die diesen Stunden, in denen alles unterzugehen scheint, Festigkeit, Halt und Sinn geben.“ Solidarität und Hoffnung – das ist etwas Aktives, ein bewusster Einsatz für andere. Solidarität zeigt sich in allen Diensten der Kirche – zentral aber im konkreten Hinschauen auf jene, die selbst nicht mehr die Kraft und die Möglichkeiten haben, ein ‚gutes Leben‘ zu führen.
Die Kriterien für das Reich Gottes werden im Matthäusevangelium (Mt 25) deutlich benannt: Da ist nicht vom Glauben die Rede, nicht von Gottesdienst und Gebet – sondern vom einfachen Hinschauen auf die Not des Menschen neben uns, ohne Ansehen der Person. „Ich war krank, und du hast mich besucht. Ich war nackt, und du hast mich bekleidet. Ich war durstig, und du hast mir zu trinken gegeben …“. Man kann hier eigentlich nur einen großen Fehler machen: Nichts zu tun und nur abzuwarten, dass andere handeln.
Man kann hier eigentlich nur einen großen Fehler machen: Nichts zu tun und nur abzuwarten, dass andere handeln.
Seelsorge vor diesem Hintergrund ist ganzheitlich – und hat sich an den jeweiligen Sorgen der Menschen auszurichten. Daher stellt gerade die aktuelle Situation die gängigen Modelle seelsorglichen Handelns auf den Prüfstand. So manches entwickelt sich neu; manches ist nicht möglich – und manches ist vielleicht auch überholt. Und keiner hat das Allheilmittel – auch nicht für die Seelsorge.
Und vieles wurde probiert und entwickelt – nur wurde und wird davon öffentlich wenig geredet. Ich würde mir daher wünschen, dass auch über Seelsorge, über die kreativen Ideen der Hilfestellungen, über heilsames Handeln genauso viel berichtet wird, wie über diverse Covid-19 Statistiken und über Gottesdienst-Übertragungen. Denn es gibt viele Ansätze: Internetforen mit Ideen und Berichten, wie z. B. covid-spiritualcare.com; oder die Ermutigung to go in Linz.
ALLES TUN FÜR DAS LEBEN?
Eine weitere zentrale Frage, die durch die COVID-19-Pandemie aufgeworfen wird, ist jene nach dem Verständnis und dem Stellenwert von ‚Leben‘. Die öffentliche Berichterstattung hatte sich anfangs hauptsächlich auf einen Faktor konzentriert: ‚Fallzahlen‘ von getesteten Personen, Verstorbene aufgrund von Corona, Krankheitsfälle, Gesundungen – aber alles unter dem Blickwinkel der Viruserkrankung.
Dass es gleichzeitig eine Fülle von psychischen und seelischen Problemen gibt aufgrund von Vereinsamung, Existenzängsten, Arbeitslosigkeit, Platzmangel etc. wurde nur langsam auch öffentlich diskutiert. Leben war und ist hier vielfältig beeinträchtigt, nicht nur durch Corona.
Die Frage, die für mich an dieser Stelle deutlich geworden ist, ist jene nach dem Leben: Was macht gutes Leben aus? Wie müssten sich die Gesellschaft und auch die Kirchen und Religionen ändern bzw. verhalten, damit sie wirklich einem ‚guten Leben‘ dienen? Die Frage nach dem Schutz des Lebens wurde intensiv gestellt – doch sie gilt nicht nur im Falle von Covid-Erkrankungen, sondern sie gilt am Beginn und am Ende des Lebens (Abtreibungs- und Sterbehilfe-Debatte) ebenso wie im Blick auf die Umwelt (Klima-Debatte) sowie hinsichtlich der Arbeitsbedingungen.
Es wird nach dem hoffentlich baldigen Ende der Pandemie auch weiterhin zu fragen sein, ob ein Land oder auch eine Kirche alles Notwendige tut, um gutes Leben zu ermöglichen. Hier kommen die Appelle von Papst Franziskus in seiner jüngsten Enzyklika Fratelli tutti zum Tragen: Dass eine solche Pandemie nicht dazu führen darf, den Solidaritätskreis zu eng zu ziehen; sich auf kleine Nationalitäten zu konzentrieren; wieder die Differenz zwischen „Wir“ und „Die Anderen“ aufzumachen.
Der Psychoanalytiker und Seelsorger Wolfgang Reuter hat die aktuelle Herausforderung so zusammengefasst: „In der Dynamik von Bindung und Trennung, Nähe und Distanz situationsangemessen zu handeln – Optimale Nähe gestalten bei gleichzeitig maximaler Abgrenzung.“ Und ich würde ergänzen: Und letztlich darauf vertrauen dürfen, dass der eigentliche Seelsorger, Gott, auch auf den krummen Zeilen unserer Versuche gerade Sätze der Hoffnung für die Menschen schreiben kann.