Название: Odersumpf
Автор: Marina Scheske
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783839269664
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Wie oft hatte er anfänglich in jenen Creywitzer Tagen gedacht, sollen sie doch machen, was sie wollen, solange sie uns in Ruhe lassen. Leben und leben lassen, das hatte er von seinem Vater und auch das hatte er verinnerlicht. Es dauerte lange, bis er begriff, dass er auf dieser Basis nicht mit ihnen zusammenleben konnte. Ihre Ideologie basierte auf Abgrenzung und daraus entstand Ausgrenzung. Es ging ihnen nicht nur um Land und Nahrung, um die Familien und ihren blühenden Fortbestand, es ging vor allem um Macht und Herrschaft, um eine Wiederherstellung der Verhältnisse, die laut Urvater dieses Land ins Verderben gestürzt hatten.
Ihre ganze folkloristische und ökologische Umtriebigkeit war ein Etikettenschwindel, eine grüne Tarnung, so gut, dass selbst der Urvater auf sie hereingefallen wäre, davon war Konrad überzeugt. Weil er gutgläubig gewesen war, ehrlich und davon ausging, die anderen wären es auch.
Umso härter traf es ihn, als er enteignet wurde. Einfach so, fast konnte man sagen, über Nacht. Man hatte Großes vor mit der kleinen Stadt in der Uckermark. Industrie siedelte sich an, Wohnblocks wurden gebaut für die arbeitenden Werktätigen. Junge Familien kamen und mit ihnen die Kinder. Die wenigen Schulen der Stadt platzten bald aus allen Nähten. Und so beschlossen die Funktionäre, neue Schulen und Kindergärten zu bauen. Ein Schwimmbad musste her, ein Kulturzentrum und eine Bücherei. Dazu noch eine Umgehungsstraße, die sich mitten durch die Gärten und Bauerngehöfte am Stadtrand ihren Weg bahnen sollte. Die Stadt fraß sich in das Land und fraß Urvaters Grund und Boden. Sie war jetzt eine sozialistische, dagegen kam auch der Urvater nicht an.
Das erklärte ihm der Vater, als er Urvater aus dem Krankenhaus abholte. Nein, er habe keinen Herzinfarkt bekommen, als ihm per Brief mitgeteilt wurde, was geschehen würde. Er sei nur vom Heuboden gefallen an jenem Tag und habe sich die Schulter ausgekugelt, die ihm flugs wieder gerichtet worden war.
Eine angemessene Entschädigung sollte für Land und Haus gezahlt werden. »Da scheiß ich drauf«, schimpfte der Urvater und sagte weiter nichts über die Angelegenheit.
Konrad weilte währenddessen im Ferienlager. Als er zurückkam, war der Urvater tot. Er konnte nicht recht glauben, dass er wirklich und wahrhaftig in dieser Holzkiste lag, die man einfach so in die Erde senkte. Sicher ist er da gar nicht drin, dachte er, als sie am Grab standen. Er verarscht sie, er ist schlau. Er hat einen Plan, er will sie alle überlisten, um sein Land behalten zu können.
Die Kapelle der Eisenbahner spielte »Ich hatte einen Kameraden«. Vater zischte der Mutter zu: »Ist das nicht verboten?«
»Wie er das wohl gemacht hat«, sagte sein Vater zur Mutter, als sie den Friedhof verließen.
»Er war fast einundneunzig. Das hat ihm den Rest gegeben.«
Worauf der Vater meinte: »Eigentlich ist das ja ein schöner Tod. Einfach abends einschlafen und nicht mehr aufwachen.«
So hatte es sich zugetragen. Als die Großmutter ihn zum Frühstück wecken wollte, lag er da und war einfach tot. »Der Herr war ihm gnädig«, sagte sie beim Leichenschmaus und dem war nichts mehr hinzuzufügen.
Alle waren sie gekommen, die ganze buckelige Verwandtschaft, wie sein Vater es ironisch kommentierte. Ein letztes Mal saßen sie in seiner Wohnstube, danach verstreuten sie sich in alle Himmelsrichtungen und kamen nie wieder so zahlreich zusammen. Eigentlich kamen sie überhaupt nicht mehr zusammen. Die Großmutter zog in die Platte, später in ein Altersheim. Damals hieß es noch »Feierabendheim« und war gar nicht so übel.
Nach Urvaters Tod fiel die Familie auseinander. Die Auflösung vollzog sich schleichend. Nicht nur die Großmutter zog ins Heim, andere Senioren in der Verwandtschaft folgten ihr. Es war keiner mehr da, der ihnen »die Wirtschaft machen« konnte. Inzwischen gingen alle Frauen arbeiten, Stellen gab es genug. Die Kinder waren in der Krippe oder im Kindergarten untergebracht, später als Schulkinder gingen sie in den Hort. Jeder war versorgt, um im sozialistischen Sinne erzogen zu werden.
So vergingen die Jahre und Konrad erkannte die Nachkommen seiner Sippe nicht mehr, wenn sie sich zufällig in der Stadt begegneten. Früher, wenn sie beim Urvater in großer Runde am Sonntag im Garten unterm Apfelbaum gesessen hatten, hieß es: »Weißt du eigentlich, dass Martin dein Cousin zweiten Grades ist? Nun geht mal schön spielen.« Martin, mit dem er allen möglichen Blödsinn veranstaltet hatte, war nur noch eine Erinnerung, so wie all die anderen auch.
Als die Großmutter starb, nahm sie auch die Geschichten mit, die Familienanekdoten, die sie meisterlich erzählen konnte und in denen der Urvater meist der Hauptakteur war.
Die nächste Stufe des familiären Zerfalls vollzog sich nach der Wende. Die jungen Leute gingen in den Westen, um dort zu arbeiten, oder nach Berlin, wo vorher ohne Zuzugsgenehmigung kein Hineinkommen gewesen war.
Auch Konrad zog der Arbeit wegen nach Berlin. Er arbeitete im Berliner Westen und lebte in einer alten Mietskaserne im Berliner Osten, weil es dort billiger war. Heimat jedoch, das war für ihn nach wie vor Friedrichsfeld. Dort lebten die Eltern, dort lagen die Gräber der Familie, die Orte seiner Jugend, Erinnerungen und Landschaft, Duft und Traum seiner ersten Liebe. All dies hatte er dort zurückgelassen, so wie den Nussbaum. Der stand, wo er immer gestanden hatte, verwurzelt in der verlorenen Erde des Urvaters. Wenn Konrad zu seinen Eltern fuhr, stattete er ihm einen Besuch ab. Er hatte als einziger Baum den Kahlschlag des Fortschritts überlebt. Er stand vor der Bücherei. Das Gebäude zeigte bereits deutliche Spuren des Zerfalls, es wurde längst nicht mehr genutzt. Vom Nussbaum aus aber gingen Konrads Erinnerungen spazieren.
Und dann kam jener Tag, an dem Konrad auch den Nussbaum verlor. Nicht, dass er gefällt worden wäre. Konrad hatte ihn nur seitdem nie wieder besucht, hörte auf, sich dort seinen Erinnerungen hinzugeben. Es geschah an seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag. Er war in Begleitung seiner damaligen Freundin zu seinen Eltern gefahren und sie eröffneten ihm ausgerechnet an diesem Tag, dass sie Friedrichsfeld verlassen wollten. Das ist Verrat, hämmerte es in seinen Schläfen, während er hörte, was sie schon alles in Gang gesetzt hatten, hinter seinem Rücken. Sie wollten nach Köln ziehen, Köln war für Konrad so fern wie der Mond. Zwar war er inzwischen einige Male gereist, war in Italien, in England und Frankreich gewesen, aber Köln, das lag im tiefsten Westen.
Im Ausland war er ein Fremder, aber was war er in Köln? Ein Ossi, ein Mensch zweiter Klasse.
Sein Vater wollte in Köln machen, was er sein ganzes Leben lang gemacht hatte – etwas mit Wasser. Nur mit dem Unterschied, dass dieses nun aus dem Rhein kam und nicht aus der Oder, wie er launig bemerkte. Sie hätten da ein lukratives Angebot, berichtete er, und zwar in einem Umweltinstitut, er als Wasserspezialist, die Mutter in der Verwaltung.
Seinen Einwand, dass sie dafür doch viel zu alt seien, seine Mutter war damals siebenundvierzig, sein Vater fast fünfzig, lachten sie weg. »Wir wollen einfach raus, Konrad«, meinte die Mutter, »hier passiert nichts mehr, wir wollen noch ein bisschen leben!«
»Ihr nehmt mir meine Heimat.« Das war alles, was ihm dazu einfiel, sie stritten sich und vertrugen sich wieder, aber der Umzug war beschlossene Sache und so geschah es dann auch.
Was ihn immer mehr befremdete, war die Veränderung seiner Eltern. Sie vollzog sich schleichend. Hatten sie anfänglich noch bekundet, dass sie eventuell als Rentner wieder in die Heimat zurückkehren würden, so war nach einem Jahr davon keine Rede mehr. Auch veränderte sich ihr Äußeres, ihre Art zu sprechen, ihre ganze Art zu leben. Es schien ihm, als würden sie sich verjüngen, und das machte ihm Angst. Die Mutter hatte plötzlich ihre alte Liebe zur Malerei entdeckt, sie pinselte СКАЧАТЬ