Odersumpf. Marina Scheske
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Название: Odersumpf

Автор: Marina Scheske

Издательство: Автор

Жанр: Контркультура

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isbn: 9783839269664

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СКАЧАТЬ Kind ohne große Interessen, ein Kind, das keine Fragen stellte. Zwar erhielt er gute Noten in der Schule, war aber schweigsam und schien ohne jegliche Originalität, ohne besondere Fähigkeiten und Neigungen zu sein. Sein inneres Erleben sahen sie nicht, das sah und begleitete einzig der Urvater, und er wurde nicht müde, es zu nähren. Kurz vor seinem Tod setzte er ein Testament auf und trug Konrad als seinen Universalerben ein.

      Die innere Freiheit und das Wissen, selbstständig denken, entscheiden und handeln zu können, auch wenn der Handlungsspielraum in einem Land wie der DDR begrenzt blieb, das war das wichtigste immaterielle Erbe des Urvaters und es lebte still in Konrad weiter.

      Er konnte als Heranwachsender nicht durchschauen, dass dies die Saat des Urvaters war, so wie auch die Kinder der völkischen Siedler nicht durchschauten, dass sie nie die Fußstapfen ihrer Väter verlassen würden, es sei denn, etwas Besonderes geschähe. Diese Weitergabe von Generation zu Generation wurde seit Menschengedenken nur durch Katastrophen unterbrochen, die sich entweder extern vollzogen, durch Kriege oder Naturereignisse, oder intern durch persönliche, psychische Krisen ausgelöst wurden.

      Der Tatsache, dass der Urvater nicht über seine Kriegserlebnisse sprechen will, haftet etwas Mystisches an. Dadurch wird der Krieg für den Jungen in das Land der Märchen und Sagen verbannt. Konrad weiß nur, dass er im ersten Krieg an der Westfront gewesen ist, ein abstrakter Begriff für einen Jungen seines Alters. Und er weiß, dass sein Cousin, der Hans, in diesem Krieg gefallen ist.

      »Hans war nicht nur mein Cousin, er war mein bester Freund«, sagt der Urvater, kneift die Lippen zusammen und schweigt. Damit ist das Thema eigentlich beendet.

      Doch Konrad gibt keine Ruhe, er fragt ihn, weshalb er nicht im zweiten Krieg gekämpft habe.

      »Gott sei Dank war ich dafür schon zu alt«, antwortet er, »und außerdem war ich kriegswichtig. Räder sollen rollen für den Sieg, so hieß das damals.«

      Es folgt eine stolze Erläuterung, die darin gipfelt, dass alles, aber auch alles, ob im Krieg oder Frieden, mit der Eisenbahn steht oder fällt. Diese Lobpreisung des Eisenbahnwesens kennt Konrad auswendig, er hört nicht mehr richtig zu, bis der Urvater sagt: »Aber dann, im Herbst 44, da wollte mich die Saubande doch noch an die Front schicken.«

      Konrad holt tief Luft und schaut den Urvater gespannt an, darüber hat er noch nie gesprochen.

      »Was meinst du wohl, Konrad? Ob sie das geschafft haben?«

      »Nee!«, antwortet er schnell. Unruhig rutscht er auf seinem Stuhl hin und her, in Erwartung einer spannenden Geschichte.

      »So war es, mein Junge!« Der Urvater zaust ihm das Haar. »Sie haben es nicht geschafft. Weil ich nämlich krank wurde, ganz schwer krank! Todkrank sozusagen.«

      Urvater schaut ihn eindringlich an, dabei zwinkert er listig. »So krank wie du, wenn du keine Lust hast, zur Schule zu gehen.«

      »Du hast den Krieg geschwänzt, Urvater!«

      Der Urvater hebt theatralisch beide Hände und schaut himmelwärts, als wollte er dort oben einen Zeugen anrufen. »Aber nein, Konrad, was denkst du denn von mir! Ich erhielt ein ärztliches Attest. Ich habe es aufbewahrt, man weiß ja nie. Natürlich war ich krank, sterbenskrank! Ja, so kann man es sagen, ich war dem Tode sehr nah, denn wenn sie mir auf die Schliche gekommen wären, hätten sie mich an die Wand gestellt und abgeknallt.«

      Urvater hält inne, holt tief Luft und fügt dann mit entrüsteter Stimme hinzu: »Ja glaubst du denn, ich wäre für diesen Drecksack aus Braunau noch kurz vor dem Zusammenbruch ins Feld gezogen?«

      Darauf schweigen sie, der Urvater weilt sinnend in der Vergangenheit und der Junge sortiert die Informationen.

      Klar, die Front ist der Krieg, da standen sich die Soldaten gegenüber und kämpften. Und das Feld ist kein Kartoffelfeld, es heißt Schlachtfeld, weil dort die Schlacht stattfand. Das hat etwas mit dem Schlachten zu tun, weil da auch viel Blut geflossen ist und getötet wurde. Vom Schlachten hält der Urvater ebenfalls nichts. Die Hühner überlässt er der Großmutter. Das geht flink bei ihr, schnell das Huhn gepackt, rauf auf den Holzklotz und dann schwingt sie die Axt. Sollen andere Tiere geschlachtet werden, Kaninchen oder mal eine Ziege, kommt ein richtiger Schlachter und der Urvater verzieht sich. Er taucht erst wieder auf, wenn alles vorbei ist, um den Schlachter zu bezahlen und einen Schnaps mit ihm zu trinken.

      Hans, der Cousin, der ist nicht nur hingefallen, einfach so, sondern der ist gestorben. Erschossen oder so. Und der Drecksack aus Braunau, das ist natürlich dieser Hitler. Der ist an allem schuld. Millionen Menschen hat der in den Tod getrieben. Das muss man sich mal vorstellen, ein einziger Mann! Das war so ungeheuerlich, das gibt es in keinem Märchenbuch! Immer haben die Guten gesiegt, Gretel befreite ihren Bruder Hänsel und verbrannte die Hexe, der Wolf stürzte in den Brunnen, weil er den Bauch voller Steine hatte, und die Bremer Stadtmusikanten verjagten die Räuber. Nur gegen Hitler, den Mann aus diesem Braunau, das sicher ein ganz schlimmer, finsterer und schmutziger Ort ist, gegen den kam keiner an. Noch nicht mal der Urvater.

      Sein großes Vorbild als Verlierer, welch ein ungeheuerlicher Gedanke. Konrad findet sich schließlich damit ab, denn Hitler ist allmächtig gewesen, so scheint es ihm, ein böser Zauberer, ganz wie der Zauberer im Märchen vom gestiefelten Kater. Der Kater hat ihn dann doch noch besiegt, weil er sehr schlau war, und auch den Hitler haben sie besiegt. Aber da sei es leider schon zu spät gewesen, meint der Urvater. Da sei nichts mehr zu retten gewesen, das hätte ein Jahr vorher passieren müssen, in der Wolfsschanze. Dann murmelt er etwas von einem Stauffenberg. Doch Konrad hört nicht mehr hin, das Wort »Wolfsschanze« beflügelt zu sehr seine Fantasie.

      Trotz der Sache mit Hitler blieb der Urvater die höchste Instanz im Kinderleben Konrads. Einen lieben Gott, an den man zu glauben hatte, gab es für ihn nur der Form halber. Seine Eltern waren eigentlich Atheisten, nur dem Urvater zuliebe hielten sie an der Kirche fest.

      Die Bibel im Haus des Urvaters war für ihn ein Buch der Märchen und Sagen mit vielen schönen bunten Bildern. Manchmal las er ihm aus diesem dicken alten Buch vor, stets aus dem Alten Testament, das Neue interessierte ihn nicht. Immer ging es um Gottes Volk, das Volk Israel, welches die seltsamsten Abenteuer bestand auf der Suche nach Land, das ihnen Schutz und Nahrung bot. Konrad verstand, vor vielen Tausend Jahren waren schon Menschen durch die Welt gezogen, um Land in Besitz zu nehmen. Ohne Land ging nichts. Sogar seine Eltern, die im Plattenbau wohnten, hatten einen Kleingarten. »Eigene Ernte«, das war ein stolzer Begriff, es klang aus dem Munde seines Vaters wie »der Sieg ist unser«.

      Und dann war da noch Gott, der stets den Zug der Israeliten begleitete, aus den Wolken auf sie herabschaute und es Nahrung regnen ließ, wenn sie Not litten. Sogar das Meer teilte er vor ihnen, damit sie trockenen Fußes weiterkamen auf der Suche nach ihrem Land.

      In Konrad stieg die Ahnung auf, dass dieser Gott für den Urvater eine Macht darstellte, die einzige, absolute Macht, vor der er sich beugen musste. Oft sagte er: »Der Mensch denkt und Gott lenkt.«

      Gott hielt also die Zügel in den Händen, er bestimmte, wohin die Reise ging. So verstand er es, doch es blieb für ihn abstrakt, es war nicht greifbar wie die Sache mit dem Land. Viele Jahre später begriff er, dass beides für den Urvater zusammengehörte. Das Land kam von Gott, dem Weltenlenker, er gab es denen, die es sich redlich verdient hatten. Die Guten hatten es sich verdient, die Gerechten, die Fleißigen, die Bescheidenen und nicht die Lügner, Prasser und Hohlschwätzer. Die faulen Äpfel am Stammbaum, sie hatten es verwirkt. Schwarz und weiß, gut und böse, fleißig und faul, so einfach war Urvaters Weltbild gewesen.

      War nicht auch das Weltbild der völkischen Siedler von der gleichen naiven Schlichtheit? Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

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