Название: Fremde und Fremdsein in der Antike
Автор: Holger Sonnabend
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783843806756
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Alle, die die erste Option bevorzugen, sollten sich Alkibiades zum Vorbild nehmen. Über den Athener, der im 5. Jahrhundert v. Chr. zu den schillerndsten Figuren in der griechischen Politik gehörte, weiß sein antiker Biograf Plutarch zu berichten (Alkibiades 23):
»Es war, wie man sagt, eine seine vielen Begabungen und Talente, die Menschen dadurch zu gewinnen, dass er sich ihnen anzugleichen, ihren Neigungen und Lebensformen anzupassen vermochte, indem er sich schneller wandelte als ein Chamäleon … In Sparta war er ein großer Sportler, einfach und ernsthaft, in Ionien war er üppig, vergnügt und leichtfertig, in Thrakien ein heftiger Zecher und Reiter, und wenn er bei dem [persischen] Statthalter Tissaphernes war, stellte er durch seinen verschwenderischen Prunk den persischen Luxus in den Schatten.«
In Sparta ein Spartaner, in Ionien ein Ionier, in Thrakien ein Thraker, in Persien ein Perser – Alkibiades wusste, mit welchem Lebensstil er bei seinen jeweiligen Gastgebern Sympathien sammelte. Allerdings ging es ihm, wenn er sich den jeweiligen Verhältnissen anpasste, ganz und gar nicht darum, den fremden Kulturen Respekt zu bezeugen. So war er nicht gestrickt. Alkibiades interessierte nur Alkibiades. Er war der Typus von Politiker, der bei allem, was er tut, an sich und seinen Vorteil denkt. Die Anpassung an andere Sitten und Gebräuche war ein taktisches Mittel, um seine politischen Ziele zu erreichen. Dabei scheute er gelegentlich auch nicht davor zurück, das Gastrecht grob zu missbrauchen.
Plutarch berichtet von einer Affäre mit Timaia, der Ehefrau des Königs Agis von Sparta (Alkibiades 23). Als der königliche Gemahl einmal außer Landes war, stürzte sie sich in ein amouröses Abenteuer mit Alkibiades, mit der Folge, dass einige Monate später ein Kind zur Welt kam. Agis rechnete nach und kam zu dem Ergebnis, dass er selbst unmöglich der Vater sein konnte:
»Er verließ sich vor allem auf die Berechnung der Zeit. Bei einem Erdbeben sei er voller Schrecken aus der Schlafkammer von der Seite seiner Frau hinaus gerannt und sei dann zehn Monate nicht mehr mit ihr zusammen gewesen.«
Es gibt berechtigte Zweifel an der Echtheit der Geschichte. Wahrscheinlich war sie von Gegnern des Alkibiades in die Welt gesetzt worden. Sie zeigt aber zumindest, was man ihm alles zutraute.
Alkibiades lebte in Sparta als Asylant. Er hatte bei den Spartanern Zuflucht gesucht, weil er in seiner Heimatstadt Athen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Die Spartaner, eigentlich Konkurrenten der Athener, nahmen den prominenten Gast auf und gewährten ihm politisches Asyl.
»Aus Furcht vor seinen Feinden und sich ganz von seinem Vaterland lossagend, schickte er nach Sparta und bat, ihm Sicherheit und Vertrauen zu schenken. Er werde ihnen größere Dienste leisten und ihnen mehr hilfreich sein, als er ihnen als Feind früher geschadet habe.«
Das geschah nicht uneigennützig. Man befand sich im Krieg mit Athen und erhoffte sich von dem prominenten Gast nützliche Ratschläge, die die Spartaner auch prompt erhielten. Auch bei ihnen stellte Alkibiades seine Fähigkeit zur völligen Anpassung unter Beweis und präsentierte sich als vollkommener Spartaner:
»Er gab sich in seiner Lebensweise ganz lakonisch, so dass sie, wenn sie sahen, wie er sich die Haare lang wachsen ließ, kalt badete, dem groben Brot zusprach und die schwarze Suppe aß, nicht denken konnten, dass dieser Mann jemals einen Koch in seinem Haus beschäftigt, einen Parfümeur seines Anblicks gewürdigt oder einen milesischen Mantel an seinem Leib geduldet haben sollte.«
Die Grundidee des Asyls bei den Griechen bestand darin, einen verfolgten Fremden unter göttlichen Schutz zu stellen. Der Begriff ist von dem griechischen Verb sylao abgeleitet, was so viel bedeutet wie »etwas herausnehmen, etwas gewaltsam entfernen«. Die Vorsilbe a negiert den Vorgang, und so bedeutet die asylía den Schutz vor Raub von Freiheit und Eigentum. Asyl zu gewähren, war ebenso eine Verpflichtung wie die körperliche Unversehrtheit des Asylanten zu garantieren. Wer bei einem Gott Schutz suchte, hatte Anteil an der göttlichen Tabuzone. Folgerichtig waren bevorzugte Anlaufstationen für Asylanten Tempel oder der Temenos, wie man das heilige, meist weit dimensionierte Areal eines Tempels in seiner Gesamtheit bezeichnete. Die Aufenthaltsdauer war nicht begrenzt: Im Prinzip konnte ein Asylant »ewig«, bis an sein Lebensende, im Tempel bleiben. Solche Fälle sind allerdings nicht überliefert. Absoluter Rekord waren die 19 Jahre, die der spartanische König Pleistoanax in einem Zeus-Heiligtum im Lykeion-Gebirge in Arkadien zubrachte (Thuk. 5,16), wo er die Hälfte des Tempelareals bewohnte. Anlass war der Vorwurf gewesen, er habe sich, als er mit einem Heer der Spartaner nach Attika gezogen war, von dem athenischen Politiker Perikles bestechen lassen und den Feldzug abgebrochen. Die erbosten Spartaner verurteilten ihn zur Zahlung einer hohen Geldsumme, die der König nicht aufzubringen vermochte, und daraufhin habe er sich in die Obhut des Gottes Zeus begeben. Nach 19 Jahren kehrte er in die Heimat zurück, aufgrund eines göttlichen Spruches der Pythia in Delphi, der sicher nicht ohne tatkräftige Hilfe seiner Anhänger zustande gekommen war.
Das Asylrecht, das aufgrund allgemeiner Konvention befolgt wurde, war den Griechen heilig. Wer es verletzte, galt als Frevler. Um 640 v. Chr. versuchte der Athener Kylon, ein Olympiasieger, in seiner Heimatstadt eine Tyrannen-Herrschaft zu errichten. Er besetzte mit seinen Freunden die Akropolis, wurde dort aber von seinen Gegnern belagert (Thuk. 1,126):
»Sie rückten mit dem ganzen Aufgebot von den Dörfern her gegen sie an und legten sich um die Akropolis, um sie einzuschließen. Auf die Dauer war freilich den meisten diese Belagerung zu aufreibend. Sie zogen ab und gaben den neun Archonten Auftrag und Vollmacht, die Bewachung und alles nach bester Einsicht zu ordnen … Aber Kylon und seine Mitbelagerten waren wegen des Mangels an Nahrung und Wasser übel dran. Er selbst und sein Bruder konnten fliehen, die anderen in ihrer Bedrängnis, und da einige schon an Hunger starben, setzten sich als Schutzflehende an den Altar auf der Akropolis. Als die mit der Wache beauftragten Athener sie im Heiligtum hinsterben sahen, befahlen sie ihnen, aufzustehen, sie würden ihnen nichts tun. Dann führten sie sie ab und töteten sie.«
Plutarch (Solon 12) liefert weitere Details:
»Die Mitverschworenen Kylons, die am Altar der Göttin Athene Schutz gesucht hatten, wurden überredet, herabzukommen und sich vor Gericht zu stellen. Sie banden einen Faden an das Bild der Göttin und hielten sich daran fest. Als sie aber beim Herabsteigen am Heiligtum der Erhabenen Göttinnen vorüberkamen und der Faden von selbst riss, schritten Megakles und seine Mitarchonten zu ihrer Verhaftung, weil ihnen die Göttin ihren Schutz versage. Diejenigen, die sich außerhalb eines Heiligtums befanden, wurden gesteinigt, diejenigen, die sich zu Altären geflüchtet hatten, wurden abgeschlachtet. Nur diejenigen, die sich schutzflehend vor den Frauen der Archonten niedergeworfen hatten, wurden freigelassen.«
So groß war das Vertrauen in die schützende Wirkung des Göttlichen, dass die Asylanten sich an einem mit dem Bild der Göttin verbundenen Faden festhielten. Sie wurde auch von den Gegnern respektiert – bis der Faden riss. Keinerlei Erbarmen hatte man mit den Menschen, die nicht an einem Altar Zuflucht gesucht hatten. Gegen jedes religiöse Gesetz wurden aber auch diejenigen getötet, die sich an den Altären der Götter sicher fühlten.
Eine Überlebensgarantie hingegen waren die Frauen der Archonten, der obersten Zivilbeamten. Dass die Bedrohten den Kontakt zu ihnen suchten und sich vor ihnen niederwarfen, gehörte zu einem Ritual, das die Griechen unter dem Namen Hikesie kannten. Es regelte die Art und Weise, wie sich Menschen, die verfolgt wurden, verhalten sollten, wenn sie Schutz suchten. Dabei entwickelten die Griechen ein umfangreiches Repertoire an Gesten und symbolhaften Handlungen, das offenbar von allen verstanden wurde. Eine Favoritenstellung nahm der direkte Kontakt zu einem sakralen Gegenstand wie einem Altar oder einem Götterbild ein. Wichtig war dabei die sitzende Haltung, mit der die Schutzsuchenden Demut, Unterwerfung und Ernsthaftigkeit ihres Anliegens signalisierten. Als früheste Auskunftsinstanz für dieses Prozedere fungiert einmal mehr Homer. In der Odyssee nimmt der nach seinen unfreiwilligen Irrfahrten in die Heimat zurückgekehrte Odysseus grausame СКАЧАТЬ