Название: Fremde und Fremdsein in der Antike
Автор: Holger Sonnabend
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783843806756
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Athen war wegen seiner Theater und seiner kulturellen Reputation ein Publikumsmagnet. Von überall her strömten bildungsbeflissene Menschen in die Stadt, und sei es auch nur, um später zu Hause erzählen zu können, sie seien in Athen gewesen und hätten sich die Stücke bedeutender Autoren oder eine der berühmten Prozessionen angesehen. Platon klassifiziert diese Fremden als »Gäste, die die Schaulust zu uns führt«. Sie müssen versorgt und verpflegt werden, dazu bedarf es einer Logistik, die in der Lage ist, der Masse der Besucher gerecht zu werden. In den Worten Platons: »Zur freundlichen Aufnahme für sie alle müssen in der Nähe der Tempel Herbergen bereitgestellt sein. Auch für sie bedarf es der Aufsicht und Fürsorge für ihre leibliche Verpflegung, und zwar sollen damit Priester und Tempeldiener betraut werden.«
Aus der Sicht der modernen Fremdenforschung ist an dieser Stelle zu notieren: Händler und Kaufleute sind willkommen, weil sie als Motoren der Wirtschaft gelten, jedoch begegnet man ihnen auch mit Misstrauen, weil sie die Gesellschaft mit neuen Sitten und Gewohnheiten infiltrieren könnten. Von ganz anderem Kaliber sind Bildungs- und Kulturreisenden: Ihnen muss man mit Freundlichkeit begegnen. Der Grund wird von Platon nicht genannt, liegt aber auf der Hand: Die Standards im Umgang mit Fremden setzten die sozialen Eliten. Wer nach Athen reiste, um sich Vorstellungen im Theater anzusehen, stammte in der Regel aus derselben Schicht. So handelte es sich hier um eine städteübergreifende Solidarität des Bildungsbürgertums, die das Fremdsein in Vertrautheit verwandelte.
Weil jede Stadt im klassischen Griechenland ein eigener Staat war und es Hunderte solcher Stadtstaaten gab, herrschte im Rahmen der zwischenstaatlichen Politik ein reger Verkehr von Gesandtschaften. Der Austausch war auch deswegen so intensiv, weil die Antike noch keine ständig vor Ort residierenden Botschaften kannte. Wenn es zwischen zwei Staaten etwas zu regeln gab, machte sich aus dem einen Staat eine Gruppe von Gesandten auf den Weg in die andere Stadt. Sie genossen in den Zielstädten als wichtige Fremde höchste Aufmerksamkeit und Fürsorge. Dass es sich bei ihnen um Fremde erster Klasse handelte, weiß auch Platon: »Für ihre Aufnahme und Unterkunft hat der Staat zu sorgen. Wohnen sollen sie ausschließlich bei Strategen, Hipparchen und Taxiarchen, und ihre Versorgung soll neben den Prytanen an erster Stelle demjenigen obliegen, bei dem er als Gast im Hause weilt.«
Die Athener behandelten fremde Gesandte gut. Sie durften bei der politischen Prominenz wohnen, bei den obersten Militärführern (Strategen), den Kommandanten der Reiterei (Hipparchen), den Führern anderer Einheiten (Taxiarchen), den Ratsherren (Prytanen). Im Gegenzug erwarteten sie, dass ihre eigenen Gesandten in der Fremde in gleicher Weise behandelt wurden.
Einen noch privilegierteren Status als reguläre Gesandte genossen sogenannte Auslandsbeobachter. Platon fasst unter diesem Begriff eine elitäre Gruppe zusammen, deren Aufgabe darin bestand, »etwas zu sehen oder von etwas Kunde zu geben, was an Schönheit und Trefflichkeit nicht seinesgleichen hat.« Diese auserwählten fremden Beobachter mussten nach Platons Angabe mindestens 50 Jahre alt sein, nach antiken Kategorien also mit einer Würde, Reife und Autorität zumindest wahrscheinlicher machenden Summe an absolvierten Lebensjahren ausgestattet sein. »Jeder derartige Fremde«, berichtet Platon, »soll uneingeladen Zutritt haben zu den Häusern der reichen und durch Bildung herausragenden Männer. Denn er ist ja selbst ein Mann von hervorragender Bildung. Beim Abschied soll er als Freund vom Freund mit Geschenken und gebührenden Ehren bedacht werden.«
Nicht in der Heimat, sondern in der Fremde zu sterben und dort, in fremder Erde, bestattet zu werden, war für viele antike Menschen eine schlimme Vorstellung. Tod in der Fremde bedeutete in der Regel und fast zwangsläufig, in der Fremde bestattet zu werden. Überführungen in die Heimat waren kostspielig und daher nicht üblich. Nach dem Tod in der Fremde war das Klagen groß (Stroszeck 2002/2003):
»Fern der Heimat starb ich im berühmten Athen.
Bei allen Verwandten ließ ich Sehnsucht zurück.«
So lautet die Inschrift auf dem Grab einer Frau namens Herseis, die um 400 v. Chr. in Athen verstorben war. Der bekannte Dichter Leonidas aus Tarent, der im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. lebte und wirkte, schreibt in einem Epigramm:
»Fern von Italien lieg ich und fern von der Erde der Heimat von Tarent – das ist mir bitterer als noch der Tod.«
Um 265 v. Chr. stirbt der Schauspieler Aristion. Er wird in Athen bestattet. Sein Grab ziert, neben der Darstellung einer Theatermaske, der folgende Text:
»Ich liege hier, mein Vater ist Aristaios aus Troizen
Mit 40 Jahren habe ich meines Lebens Strecke beendet und bin,
als dritter geboren, als erster gestorben.
Mir haben das Grabmal gesetzt Schwester und Bruder
im fremden Festland, und ich war ohne Nachkommen.
Mein Name aber war: Aristion. Ich übte die Kunst der Komödie aus.«
Nicht jeder, der in der Fremde starb, bekam auf dem Grabstein so schöne, eindrucksvolle Abschiedsworte. In allen drei angeführten Fällen waren Lyriker am Werk, die entweder im Auftrag der Familie arbeiteten oder die sich als Verfasser von Musternekrologen betätigten. Gemeinsam ist diesem speziellen Genre des Epigramms der Umstand, dass der Verstorbene oder die Verstorbene selbst spricht und sich auf diese Weise an die Öffentlichkeit wendet. Die Grundstimmung ist Trauer – Trauer wegen des Todes, mehr aber noch Trauer darüber, in fremder Erde liegen zu müssen, und nicht in Tarent im Süden Italiens oder in Troizen, einer griechischen Stadt in der Argolis. Diese Trauer hatte noch einen besonderen Grund: Die Familien der Verstorbenen hatten keine Gelegenheit, sich regelmäßig um die Grabstätte zu kümmern, sie zu pflegen, der Toten zu gedenken. Wie wichtig dieser Aspekt in der griechischen Gesellschaft war, zeigt der Umstand, dass in Athen nur diejenigen ein öffentliches Amt antreten durften, die zuvor den Nachweis erbracht hatten, dass sie über ein Familiengrab verfügten.
7. Unter göttlichem Schutz: Asyl bei den Griechen
Sollen sich Fremde in der Fremde so verhalten wie die Einheimischen? СКАЧАТЬ