Название: Trost der Physik
Автор: Harald Lesch
Издательство: Bookwire
Жанр: Математика
isbn: 9783831257386
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Wenn ich nur Meer sehe, so sehe ich viel mehr: Atome, Moleküle, Flussgleichungen, Salzwasser, Osmose – darum darf ich’s nicht trinken, wie’s dahin gekommen ist, wo’s herkommt – und den Anfang unserer Art: Plankton, Photosynthese, Fusion, Supernovae, primordiale Nukleosynthese, Gravitationsinstabilitäten, kosmologische Phasenübergänge, Vakuumfluktuationen. Da sind sie wieder, die vier Grundkräfte: Starke und schwache Wechselwirkung, Elektromagnetismus und das große Ganze, die Gravitation.
Tausende Jahre Kultur- und Wissensgeschichte spitzen sich zu, ich sehe alles vor mir. Ich kann es mir erklären, wie ich hier herkam. Anreißen, was alles notwendig war, um hier zu sein. Ich kann in meiner Erklärung meines Seins und dieser Umgebung, hier und jetzt, wortwörtlich ersaufen. Ich stehe auf den Schultern von Riesen. Wie bin ich hier gelandet? Jetzt mache ich erst mal Ordnung. Das hat mir immer geholfen: Ordnung schaffen mit Geisteswaffen. Auswählen, sortieren, entscheiden. Das macht frei.
Kapitel 2 – Inventur
Also los, machen wir Inventur. Ich hätte jetzt gerne den grauen Kittel des Lageristen in diesem Betrieb, wo ich als Student mal Praktikum gemacht habe. Dieser weise Alte, mit seinem ewigen Zigarrenstumpen; immer kalt und stinkend. Ich höre noch seinen Satz: „Na, junger Mann, zum ersten mal auf Arbeit? Dann sind sie hier genau richtig. Hier ist nämlich unser Lager und was wir zwei jetzt hier machen heißt Inventur. Fangen Sie mal mit den Schrauben an!“ Ich gucke mich jetzt hier auch mal um. Was ist denn alles da? Hier direkt um mich herum Wasser und Luft, direkt unter mir etwas Festes, und hierher gebracht hat mich das Feuer in der Maschine. Mit diesen vier Elementen hat ja die ganze Geschichte des abenländischen Denkens begonnen. Wie hießen die denn? Thales, klar. Das war ja der mit dem Wasser, aber die anderen? Das macht mich ganz rappelig.
Nein, ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen, jetzt wird erst mal gezählt. Bitte jetzt keine philosophischen Ausflüge nach Kleinasien oder in die Inselwelt der Ägäis. Oder vielleicht doch? Kein Wunder, wie wundervoll die über ihre vier Elemente nachdenken konnten: da unten herrscht ja schönstes Wetter, prima Essen, und selbst wenn du schiffbrichst, siehst du doch irgendwann eine Küste, und wenn du Glück hast, begrüßt dich eine nette junge Griechin.
Homer, lass mich doch mal in Ruhe zählen, und quäle mich nicht mit diesem gerissenen Odysseus, auf den offenbar jede Frau des Mittelmeeres stand.
Thales, Anaximenes, Heraklit, Empedokles, jetzt habe ich Euch, meine lieben Freunde bitte verschwindet, ich muss zu den Atomen. Auch so eine griechische Erfindung, aber geglaubt hat sie keiner so richtig. Dabei drückte sich Demokrit sehr verständlich aus: Es gibt nur die Atome und das Nichts, der glasklarste Materialist ohne Wenn und Aber. Vielleicht haben deshalb seine Atome über 2000 Jahre gebraucht, bis sie wirklich gebraucht wurden, die kleinen Racker.
Dabei ist es vermutlich die größte und wichtigste Idee der Menschheit überhaupt: Die Welt besteht aus Atomen. Weil wir das wissen, können wir die Welt manipulieren, können aus ihr das machen, was wir wollen. Jede moderne Maschine, auch die, die da mit mir abgestürzt ist, die gibt es nur, die funktioniert nur – naja nicht immer – weil wir wissen, dass das Material aus Atomen besteht. Material und Mater, ob das zusammenhängt? Die Mutter aller Dinge.
Es gibt 92 stabile Atomarten, schön im Periodensystem der Elemente zusammengestellt, jaja so einen Bart hatte der Mendelejew, der hat sich das nämlich so ausgedacht. Nee, nicht ausgedacht, sondern überlegt, also nicht das mit den Atomen, sondern mit dem Periodensystem.
Ruhe jetzt, wenn ich schon beim System in Gedankenpanik gerate, wie will ich denn da Inventur machen. Wo war ich? Ach ja, bei den Atomen. Die bestehen aus Atomkernen, also genauer aus sehr kleinen Atomkernen. Apropos Kern, wenn ein Atom so groß wäre wie ein Kathedrale, dann wäre der zugehörige Atomkern so groß wie ein Kirschkern.
Umrundet oder besser umschwirrt werden die Atomkerne von Elektronen.
Atomkerne bestehen aus positiv geladenen Protonen und aus elektrisch neutralen Neutronen. Beide sind knapp 2000 Mal schwerer als die Elektronen und die Neutronen sind etwas schwerer als die Protonen und alle Kernbausteine. Die nennt man Nukleonen, ein griechisches Wort. Sie bestehen aus up und down Quarks, das kommt aus dem Englischen. Großartig, jetzt habe ich mich richtig eingegroovt.
Die Struktur der Materie, das ist das Hoheitsgebiet der Physik. Hier wird seit über hundert Jahren erfolgreich geforscht. Man weiß sehr genau, aus was die Welt besteht, und vor allem weiß man, warum sie aus so vielen verschiedenen Materialien besteht. Weil sich die Atome miteinander zu Molekülen verbinden. Die ganze Welt um mich herum, alles Moleküle.
Wasser, auch dieses wunderbare französische hier, ist eine Verbindung von zwei Wasserstoffatomen mit einem Sauerstoffatom. Warum ist die Verbindung zweier Gase flüssig? Ich könnte mir das jetzt beantworten, aber ich tue es nicht. Ich mache Inventur.
Die Luft, die ich einatme, Moleküle. Ich bestehe auch nur aus Molekülen – und was für welchen! Und das Allergrößte ist: Die sind gar nicht von der Erde, diese ganzen Stoffe kommen von den Sternen, wir Menschen bestehen zu 92 Prozent aus Sternenstaub. Vom Staube kommst du, und zu Staube sollst du wieder werden.
Ich werde hier aber nicht zu Staub, hier ist es viel zu nass, ich werde wahrscheinlich zu Fischfutter. Auf der molekularen Ebene ist das aber egal. Für zwei Kohlenstoffatome aus meiner linken Wange ist es völlig unerheblich, ob sie einem Haifisch helfen, sein Lächeln hinzukriegen oder mir mein Verzweifeln. Da unten, in der Welt der kleinsten Teilchen ist alles egal. Die kennen nix, die kennen keine Verwandten, die haben nämlich keine. Die wissen auch nix, die kleinen molekularen Geräte, die funktionieren einfach nur.
Warum ist unser Flieger denn eigentlich abgestürzt? Das lässt sich ganz einfach erklären und immer sind diese Drecksmoleküle daran beteiligt. Es ist so passiert: Durch den gewaltigen Eintrag von Kohlendioxid (Molekül) kommt es zur Erwärmung der Luft (Sauerstoff, Stickstoff – und andere Moleküle), die Luft überträgt ihre Wärme auf das Wasser (Molekül), das Wasser verdampft ab einer bestimmten Temperatur. Es verdampft natürlich nichts ahnend, was es demnächst anrichten wird. Es wird nämlich mit der warmen Luft nach oben in die kühlere Atmosphäre geschleudert und kondensiert dann dort oben wieder aus. Dabei wird Energie frei und die Wassermoleküle rasen weiter nach oben. Es bilden sich Gewitterwolken und weil die Temperaturunterschiede sich noch verstärken, werden die Luftmoleküle noch hemmungsloser und es gibt Sturm.
Und genau in diesen molekularen Wirrwarr sind wir mit unserer schönen stromlinienförmigen Passagiermaschine hineingeraten.
Das Flugzeug ist aber leider nicht so flexibel wie die Gasmoleküle. Es besteht nämlich aus Metall, und die Molekülverbindungen von Eisen, Kupfer, Aluminium und anderen Metallen sind eben leider eher spröde, dafür aber auch stabil genug, um einen oder 240 Sessel in der Luft zu halten. Der spröde, eigentlich stabile Zylinder aus Metall kommt in den Wirbel aus Gasmolekülen, gerät ins schlingern und stürzt ab.
Aber wie gesagt, für die Moleküle ist es völlig egal, die gehen nicht so einfach kaputt. Also die kleineren Moleküle, die größeren Moleküle sind nicht ganz so unempfindlich.
Ich bin so ein großes Sammelsurium von vielen, sehr empfindlichen Molekülen und deshalb bin auch so leicht zu zerstören. Überhaupt bin ich am Boden zerstört. Naja, Boden ist vielleicht doch das falsche Wort. Besser wäre „ins Wasser gefallen“, mein Leben ist ins Wasser gefallen. Und warum? Weil man mich immer wieder ins kalte Wasser gestoßen hat. Diese verdammte Optimierung! Junge, du musst viel besser werden, gut ist nicht gut genug, guck doch mal die anderen! Diese ewige Befehlsform, der Imperativ der Moderne lautet: Niemand kann so bleiben wie er ist, er muss sich verbessern СКАЧАТЬ