Название: Das Lächeln der Freiheit
Автор: Paul Linden
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783867811903
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Zweifelsohne gibt es auch Missbrauchsüberlebende, die zu zerbrechlich sind, um unter dem Druck tiefer Körperselbsterfahrung heilende Prozesse zu durchlaufen. Ich arbeite nicht mit selbstmordgefährdeten oder sich selbst verletzenden Menschen und auch nicht mit Überlebenden, die aus anderen Gründen für das Erlernen der von mir unterrichteten Techniken des Zentrierens zu instabil und zu wenig im Gleichgewicht sind. Da Missbrauchsüberlebende normalerweise ihre Selbsterfahrungsarbeit nicht bei mir beginnen, gibt es in der Praxis damit keine Schwierigkeiten, zumal ich so langsam arbeite, dass die Klienten, sobald sie das Gefühl einer Überforderung bekommen, jederzeit die Möglichkeit eines Abbruchs haben, ohne dann alleine mit angefangenen Themen in Kopf und Körper dazusitzen.
Die BIM-Methode der Traumaverarbeitung eignet sich besonders für verhältnismäßig gefestigte Missbrauchsüberlebende. Sind die Menschen, mit denen Sie arbeiten werden, am Anfang ihrer Missbrauchsaufarbeitung oder besonders instabil? Sind sie bereit, die Übungen, die Sie vorschlagen, und die damit einhergehenden Gefühle zu erforschen? Verfügen die Übungsteilnehmer über genügend Ich-Stärke, um den intensiven Kontakt mit dem eigenen Körper zu ertragen? Reichen Ihre eigenen Erfahrungen als Begleiter solcher Prozesse aus, um diese Fragen beantworten zu können? Wenn Sie unsicher sind, ob jemand genügend Stabilität für die somatische Traumaverarbeitung mitbringt, holen Sie die Meinung eines kompetenten Therapeuten ein. Falls es bereits einen behandelnden Therapeuten gibt, tauschen Sie sich aus.
Sollten Sie sich fragen, ob eine einzelne Übung eine Überforderung darstellt, bleiben Sie auf der sicheren Seite, verzichten Sie darauf. Meine Devise ist: Langsam voran. Auch für Menschen, die alle Voraussetzungen für die somatische Traumaverarbeitung mitbringen, ist es wichtig, sich Zeit für die Erarbeitung grundlegender Ressourcen der Selbststärkung zu nehmen, bevor sie sich ihren persönlichen Themen zuwenden.
Interpretieren
Seien Sie sich der Gefahr bewusst, dass das Interpretieren der Erfahrungen ihrer Klienten deren Sicherheitsgefühl beeinträchtigen kann. Die Suche nach Sinn und der Versuch, Erklärungen für schwer Erträgliches, schwer Verständliches anzubieten, ist menschlich, kann aber gerade in der Arbeit mit Traumaüberlebenden destruktiv sein.
Sehr oft sagen Interpretationen lediglich etwas über den Interpreten, nicht über das zugrunde liegende Ereignis, nämlich die Erfahrungen der Überlebenden, aus. Wenn Sie die Lücken in der Geschichte oder dem Denkprozess eines Missbrauchsüberlebenden durch ihre Interpretation zudecken, kann es passieren, dass Sie das tatsächlich Geschehene völlig missdeuten.
Selbst wenn Ihre Interpretation zutrifft, kann sie zerstörerisch wirken. Erstens: Sie kappen den Lernprozess. Statt die eigene Urteilsfähigkeit zu entwickeln und eigene Wege zu tragfähigen Erklärungen zu finden, werden die Klienten davon abhängig, dass Sie ihnen die richtige Interpretation liefern. Zweitens: Angenommen, ein Überlebender lehnt Ihre – richtige – Interpretation ab, weil er sich diese Sichtweise nicht selbst erschlossen hat, es wird für ihn unmöglich werden, irgendwann einmal selbst zu dieser Erkenntnis zu kommen.
Retraumatisierung
Kann es bei der körperlichen Berührung Überlebender überhaupt so etwas wie Sicherheit geben? Oder beim Selbstverteidigungstraining? Einige Psychotherapeuten halten Berührung und Körperarbeit für unethisch, und möglicherweise haben auch Sie sich diesen Gedanken im Laufe einer Psychotherapie angeeignet. Ist es vielleicht prinzipiell falsch, Klienten anzufassen? Ein Argument in diesem Zusammenhang lautet: Da Missbrauchsüberlebende durch körperliche Berührung verletzt wurden, wird jede weitere Berührung zu weiterem Schaden führen. Jim Struve hat darauf hingewiesen, dass mit gleicher Berechtigung das Sprechen mit Missbrauchsüberlebenden unterbunden werden kann, da Überlebende in der Regel auch durch Worte verletzt worden sind.* Worte und Berührungen sind natürliche Elemente menschlicher Kommunikation. Entscheidend ist, ob sie unterstützend und heilend verwendet werden oder nicht.
Wenn über Berührung gestritten wird, geht es vor allem um die Frage der Retraumatisierung. Überlebende und Therapeuten eint die Befürchtung, dass Menschen, die ein physisches Trauma erlitten haben, durch die Arbeit mit körperlichen Herausforderungen und Angriffen erneut traumatisiert werden könnten. Kurzum: Sie werden durch einen Angriff nicht traumatisiert. Unterliegen traumatisiert – Siegen ist heilend!
Souveränität markiert die Grenzlinie zwischen neuer Verletzung und Heilung. Wenn sich Klienten durch Berührung und Selbstverteidigungstraining innerlich sammeln, erfahren sie das eher als Triumph denn als Trauma. Das Gefühl, erfolgreich zu sein, dieses Mal siegen zu können, schafft Erleichterung, Freiheit und Heilung. Es ist weniger ein einzelnes Ereignis, das traumatisiert, sondern die Machtlosigkeit, die Hilflosigkeit und der Schmerz, die ein Opfer erlebt. Stellen Sie sich vor, Sie fallen ins Wasser. Ist das traumatisierend? Ja – wenn Sie nämlich nicht schwimmen können. Schwimmen Sie hingegen gut, dann macht Ihnen das, was für einen anderen Menschen traumatisierend ist, vielleicht sogar Spaß. Das Problem besteht nicht darin, angegriffen, sondern darin, überwältigt zu werden. Sobald Sie feststellen, dass Sie erfolgreich mit Berührungen, körperlichen Herausforderungen und Angriffen umgehen können, beginnen sich die Verfestigungen alter Traumatisierungen aufzulösen.
Die Heilung begleiten
Falls Sie professionell oder im Rahmen einer Selbsthilfegruppe als Gruppenleiter agieren, sollten Sie sich ihrer Fähigkeiten wie auch der Grenzen Ihrer Kompetenz und Wahrnehmungsfähigkeit bewusst sein. Leiten Sie nur Übungssequenzen an, bei denen Sie die Sicherheit der Teilnehmer gewährleisten können. Die Übungen und Trainingsziele, die ich Ihnen in diesem Buch vorlege, stehen für sich selbst und können ohne weitere Vorbereitung oder Ausbildung angeleitet und erreicht werden. Und wieder gilt: Sollten Sie sich unsicher fühlen, ob Sie bestimmte Sequenzen anleiten können, sollten Sie zweifeln, ob die Gruppe genug Ressourcen zur Bewältigung einer Übung hat, oder selbst bei einer bestimmten Thematik nervös werden, dann verzichten Sie darauf, ziehen Sie sich von dem Thema zurück. Wenn ein bestimmtes somatisches Übungselement schwierig für Sie ist, kann es sinnvoll sein, eine Zeit lang Unterricht in einer Methode zu nehmen, in der Körperselbstwahrnehmung ein zentrales Thema ist. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit, an einem BIM-Training oder dem Training einer anderen somatischen Disziplin teilzunehmen. Hinweise auf die BIM-Ausbildung finden Sie am Anfang dieses Buches.
Holen Sie sich das Einverständnis der Menschen ein, mit denen Sie arbeiten, bevor Sie irgend etwas tun. „Darf ich Ihren Bauch berühren?“ „Ist es in Ordnung, wenn wir daran arbeiten, Ärger durch Ruhe zu ersetzen?“ Missbrauchsüberlebende haben massive, gewalttätige Grenzüberschreitungen erlebt, und es ist äußerst wichtig, sie jedes Mal über das aufzuklären, was Sie vorschlagen. Nur wenn Sie die ausdrückliche Erlaubnis Ihrer Klienten erhalten, sie zu berühren oder anders mit ihnen zu arbeiten, dürfen Sie anfangen.
Behalten Sie auch vor Augen, dass, nur weil eine Person Ihnen eindeutig und ausdrücklich etwas Bestimmtes erlaubt hat, es sich keineswegs um eine wirkliche Erlaubnis handeln muss. Missbrauchsüberlebende sind gut darin geübt, zuzustimmen und zu verstummen. Sie sind darauf trainiert, Menschen mit Macht zu erlauben, sie zu benutzen. Manchmal wird Ihnen jemand die Zustimmung zu Berührungen oder Übungssequenzen geben, weil er oder sie denkt, zum Mitmachen verpflichtet zu sein. Manchmal wird ein Missbrauchsüberlebender erst in der Lage sein, Nein zu sagen, wenn er den Schritt, zu dem er seine Zustimmung innerlich vorher nicht gegeben hatte, tatsächlich bewusst und gewollt gegangen ist. Manchmal wird jemand alle Stufen des Prozesses durchlaufen und gleichzeitig innerlich so perfekt von dem, was passiert, abgetrennt sein, dass Sie die Person mit Ihren Interventionen innerlich gar СКАЧАТЬ