Название: Am Tag, als Walter Ulbricht starb
Автор: Jan Eik
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955522445
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Im Büro fühlte sie sich unwohl in ihrer feuchten Kleidung. Außerdem standen Antworten auf Eingaben auf ihrem Vormittagsprogramm, also Ablehnungen und Ausreden an Leute ohne Telefon, die sich meistens zum x-ten Mal beschwert hatten. Immer der gleiche verlogene Text, den sie im Schlaf runterratterte, wenn niemand sie störte.
Ausgerechnet heute aber schob sich gegen halb elf eine dickliche Riesenfigur in ihr Zimmer, bekleidet mit einem spermafarbenen Anorak, wie Hartmut die Farbe nannte, und einer zu großen Brille mit violett schimmernden Gläsern auf dem geröteten Nasenzinken. «Ich bin der Norbert», hatte er sich ihr bei seinem ersten Besuch plump-vertraulich vorgestellt, und es hätte nicht des gezückten Klappausweises bedurft, um ihn als Vertreter «der Firma» zu identifizieren.
Mohnholz wandte jedes Mal die Augen gen Himmel, wenn sie den unwillkommenen Besucher meldete. Der feilschte meistens dreist um Extrawürste bei der Fernmeldeversorgung, die man ihm auch prompt briet – oder er wollte irgendwelche Auskünfte einholen, die man ihm ebenfalls nie verweigerte.
Hätte Carola geahnt, dass heute ihr eigener Name und der Hartmuts auf Norberts Wunschliste standen, hätte sie sich das gequälte Lächeln verkniffen, das sie bei seinem Eintritt aufgesetzt hatte. «Verärgern Sie den bloß nicht!», war sie oft genug von Mohnholz gemahnt worden, der sich so leicht vor niemandem fürchtete. «Und lassen Sie ihn immer gleich zu mir, sonst schnüffelt er nur in der Gegend rum!»
Zwischen Mohnholz und ihr herrschte ein ungezwungener Ton. Kaum war der tapsige Besucher diesmal wieder verschwunden, tauchte der Chef aus seinem Gehäuse auf und blickte Carola bedeutungsschwanger an.
«Ist was?», fragte sie.
«Das frage ich Sie.»
«Wieso? Ist der meinetwegen hier gewesen?» Das sollte leichthin klingen, aber es schwang ein unbehaglicher Unterton mit. Unwillkürlich fiel ihr das nächtliche Gespräch mit Hartmut ein.
«Haben Sie irgendwelche Westkontakte?», fragte Mohnholz mit gedämpfter Stimme.
Empört sah sie zu ihm auf. «Wer behauptet denn so was?»
Mohnholz hob begütigend die Hand. «Vergessen Sie’s. Er hat sich nur am Rande danach erkundigt. Wahrscheinlich wegen der VVS-Verpflichtung … »
Carola zog eine Grimasse. Die konnten ihr mit ihrer ganzen Geheimhaltung gestohlen bleiben, und das wusste Mohnholz. Er vertraute ihr und hatte sogar mal gucken lassen, dass seine eigene greise Mutter irgendwo im Westen lebte. Natürlich ohne offizielle Verbindung zu ihm. Sonst hätte er nicht länger auf seinem Posten gesessen.
«Wenn mal was sein sollte, sagen Sie’s mir rechtzeitig», murmelte er und fügte, schon in der Tür, noch hinzu: «Und erzählen Sie Hartmut lieber nichts davon.»
Mit dem war er, wie mit den meisten Ingenieuren und den paar Genossen im Amt sowieso, per du.
Für Carola waren die Schrecken dieses trüben Mittwochs damit keineswegs zu Ende. Am Abend stand die Feier zum 55. Geburtstag der Mutter an, ein Ereignis, vor dem ihr zu Recht graute, zumal Hartmut keine zehn Pferde in die Karl-Marx-Allee gebracht hätten. Außerdem probte mittwochs die Band.
«Du kommst alleine?», fragte die Mutter zwar scheinheilig, doch war ihr die Erleichterung über Hartmuts Ausbleiben deutlich anzumerken.
Der Vater hingegen musterte sie nur prüfend, wie es seine Art war, unterließ aber angesichts der anderen Gäste die übliche inquisitorische Befragung bezüglich ihrer beruflichen, gesellschaftlichen und höchst privaten Entwicklung, ja, er verkniff sich sogar die obligatorische Bemerkung über ihre unpassende Frisur. Dass sie nagelneue Jeans aus dem Westen trug, fiel ihm wahrscheinlich nicht auf.
Ausnahmsweise war Carola nicht die einzige anwesende Verwandte. Aus Mülsen St. Jacob war Vaters Schwester Ursula mit ihrem Mann Ottfried angereist, die zur Zeit in einem Kaff südlich von Berlin ihren Jahresurlaub verbrachten – um dort den ganzen Tag vor dem Fernseher zu verbringen, wie Carola vermutete. In ihrem vorerzgebirgischen Tal war der Westempfang ausgesprochen mies.
Im Gespräch war selbstverständlich nur vom Adlershofer Programm die Rede, wie es sich in Gegenwart eines Referenten der SED-Kreisleitung gehörte, der noch dazu ganz offensichtlich über einen gesamtwirtschaftlichen und globalpolitischen Überblick verfügte, um den ihn die restlichen Anwesenden nicht einmal zu beneiden schienen.
Onkel Ottfried beispielsweise hakte sich an den allzu optimistischen Prognosen des Hausherrn fest und registrierte erstaunt Carolas aufmunterndes Zunicken.
«Bei der Telefonversorgung sieht’s auch ausgesprochen beschissen aus», ergänzte sie Ottfrieds Einwände nüchtern. «Daran kann auch dein Honecker nichts ändern.»
«Ihr könnt immer nur kritisieren!», schnaubte der Vater. «Habt ihr mal überlegt, unter welchen Bedingungen wir anfangen mussten? Der Krieg … »
«… ist seit 27 Jahren zu Ende», unterbrach Carola den allzu vertrauten Sermon. «Irgendwann müssten doch mal normale Zeiten anbrechen.»
Dem Vater verschlug es offenbar die Sprache.
«Na, mit Honecker hat sich doch schon eine ganze Menge geändert», mischte sich Mutters Kollegin Hertha ein, ein Trumm von einem Weib, das der Bowle heftiger zusprach als alle anderen. «Nur der Krenz gefällt mir gar nicht. Aber Lamberz … » Sie verdrehte die Augen schwärmerisch. «Solche Leute hätte Ulbricht sich ranholen müssen. Er hat eben eine Menge falsch gemacht, wie man heute weiß.»
Natürlich wusste das jeder. Es auszusprechen galt dennoch als Sakrileg.
«Beim letzten Plenum hat Ulbricht ja auch viel gesprochen.» Carola kolportierte damit nur einen Witz, der im Amt umging.
Alle sahen sie ungläubig an. Jeder wusste, dass der entmachtete Erste Mann in keinem Plenum mehr sprechen würde.
«Doch, doch», beharrte Carola, «mit dem Pförtner. Er wollte unbedingt rein … »
In den Mienen der Zuhörer sah sie, dass manche lachen wollten, was der Genosse Vater zu verhindern wusste.
«Die Fehler des Genossen Ulbricht sind ein viel zu ernstes Thema, um darüber frivole Witze zu verbreiten!», wies er seine Tochter zurecht.
«Die meisten politischen Witze kommen aus dem ZK», konterte sie.
In diesem Stil ging es weiter. Das grünstichige Geflacker des neuangeschafften Farbfernsehers beeinflusste das Gespräch nur für kurze Zeit. Vergeblich versuchte der Hausherr, die Vorzüge des französischen Farbsystems gegenüber dem westdeutschen herauszuarbeiten.
«Das haben die Freunde für uns entschieden», stellte Hertha lautstark fest, und niemand widersprach. An einer Moskauer Entscheidung war nicht zu rütteln.
Während Carola ihrer Mutter bei der Vorbereitung des Abendessens half, betrat der Vater die Küche, was selten vorkam. «Was ist los mit dir, Mädel? Musst du denn immer provozieren?», fragte er.
«Provozieren nennst du das, wenn ich von den Mängeln eurer Planwirtschaft spreche? Du kannst gerne mal in unser Amt kommen und die Eingaben der Bürger lesen und wahrheitsgemäß beantworten!»
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