Название: Grenzgänge
Автор: Jan Eik
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520243
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Als Charlotte aus dem Bahnhof trat, galt ihr Blick zuerst der vertrauten Silhouette des Funkturms. Sie war niemals dort oben gewesen, nicht einmal im Restaurant. Anfangs hatte sie es sich immer wieder vorgenommen, aber Max riet ab. Später verboten die politischen Umstände solche Absichten. Nur von der anderen Straßenseite aus sah sie die Menschenmassen, darunter viel zu viele aus dem Osten, zur alljährlichen Industrieausstellung in die Messehallen strömen.
Sie wandte sich nach links und bog wie gewohnt in die Wundtstraße ein, an deren oberem Ende Elke wohnte. Hoffentlich begegnete ihr kein Bekannter von früher. Aber wer erinnerte sich nach sieben Jahren noch an eine unscheinbare ältere Frau, die hier zweimal am Tag vorbeigehastet war? Zu den Nachbarn, die dem Zonenrundfunk und seinen Mitarbeitern ohnehin misstrauten, hatte es kaum Kontakt gegeben. Elke hingegen war von Anfang an akzeptiert worden.
Bei dem Gedanken, die Tochter gleich in die Arme zu schließen, schlug ihr Herz schneller. Sie blieb stehen, atmete tief ein und schaute hinunter auf den Lietzensee. So idyllisch war ihr die Gegend damals gar nicht vorgekommen. Leute saßen auf den Bänken – Arbeitslose, wie sie vermutete –, Kinder spielten auf dem Rasen. In der wärmenden Maisonne wirkte alles so friedlich, dass sie plötzlich sicher war, alles würde gut ausgehen. Elke hatte sich bestimmt aus reiner Gedankenlosigkeit nicht gemeldet, obwohl das nicht ihrer Art entsprach. Wie die Mutter war sie eine umsichtige und zuverlässige Person, die auf Ordnung hielt. Schon in Moskau, in Taschkent und in Ufa am Ural war das so sorgfältig gekleidete, zierliche Kind mit dem Madonnengesicht jedermann aufgefallen. Immer wieder hatten Frauen versucht, Charlotte zum Tausch oder Verkauf abgelegter Kleidungsstücke zu überreden, nur war da nichts zu tauschen gewesen. Jeder Fetzen Stoff wurde gebraucht, damit ihre Elke nicht abgerissen herumlief wie die anderen Kinder.
Erst in letzter Zeit war ihr aufgefallen, dass Elke anscheinend etwas weniger auf ihre Kleidung achtete, das rabenschwarze Haar manchmal strähnig wirkte. Sie schwieg dazu, um die viel zu seltenen Treffen mit der Tochter nicht durch Gemecker zu belasten. Oder hatte Elke ihr etwa doch eine Bemerkung übelgenommen, ohne dass es ihr aufgefallen war?
Was hatte sie falsch gemacht, das eine solche Kluft zwischen Elke und ihr rechtfertigte? Gewiss, in den Jahren beim Rundfunk war viel zu wenig Zeit für die Heranwachsende geblieben. Elke hatte ihr eigenes Leben geführt, das äußerlich keinen Grund zur Beunruhigung bot. Was wirklich in dem Mädchen vorging, war Charlotte verborgen geblieben. Auch jetzt wusste sie im Grunde nicht mehr über ihre Tochter, als dass sie studierte. Publizistik und Theaterwissenschaft. Und dass sie für Brecht schwärmte und öfter das Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm besuchte. Ein ideologischer Hoffnungsschimmer für Charlotte, während Max aus seinem Misstrauen gegen den «Augsburger», wie er Brecht stets betitelte, kein Hehl machte. Wo Elke politisch wirklich stand, vermochte Charlotte nicht einmal zu erraten. Den knappen, nur flüsternd vorgetragenen Bericht über die Schreckenszeit in der Haft, zu dem sich Charlotte nach dem Parteitag in Moskau überwand, hatte Elke mit Schweigen quittiert. Davon, dass ihr Vater inzwischen rehabilitiert worden war, ahnte sie nichts. Auch deshalb musste sie unbedingt mit Elke reden.
Vor dem Haus angelangt, fiel ihr die renovierte Fassade auf. In dem ehemaligen Antiquitätengeschäft residierte eine Fahrschule. Ein chices Auto stand vor der Tür und dahinter ein Gefährt mit gläsernem Dach, das an ein Kleinstflugzeug erinnerte.
Es hatte sich noch mehr geändert. Die stets offenstehende Haustür war verschlossen, links in der Wand war eine Klingelleiste installiert. Menzel las sie dort und hinter einem Schrägstrich einen zweiten Namen: U. Losinski. Richtig, Elke hatte vor einiger Zeit ihre Absicht erwähnt, der steigenden Miete wegen einen Untermieter aufzunehmen. Entschlossen drückte Charlotte auf den Klingelknopf. Ein scharfes Klicken ertönte, dann quäkte eine Männerstimme: «Bin schon unterwegs!»
Ratlos starrte Charlotte die Tür an. «Das ist ein Missverständnis», sagte sie dann. «Ich möchte zu Fräulein Menzel.»
Eine Antwort blieb aus.
Sie drückte erneut auf den Knopf. Nichts. Dann die sich überschreiende Männerstimme, die ungeduldig «Ja doch!» hervorstieß. Kurz darauf vernahm Charlotte das Zuknallen der Wohnungstür im Treppenhaus. Sie kannte das vertraute Geräusch noch.
Schritte polterten die Treppe herab, die Haustür wurde aufgerissen. Ein baumlanger junger Mann wollte an ihr vorbeistürmen. Sie hielt ihn am Ärmel fest. «Herr Losinski?», fragte sie.
Überrascht blickte er auf sie hinab. «Ja, bitte?»
«Ich möchte zu Fräulein Menzel.»
Sein Befremden wuchs sichtlich. «Die ist nicht da», sagte er barsch und wollte gehen, nicht ohne die Frau, die noch immer seinen Arm umklammerte, mit einem gewissen Misstrauen zu betrachten. «Was wollen Sie denn von ihr?»
«Ich bin ihre Mutter.»
Er schien zu erschrecken. «Sie ist trotzdem nicht da», sagte er ablehnend, doch immerhin eine Spur höflicher.
«Und wann kommt sie wieder?»
«Keine Ahnung.» Es war klar, dass er an einem Gespräch mit ihr nicht interessiert war.
«Sie wohnen doch mit ihr in derselben Wohnung!»
Moralische Skrupel waren Charlotte fremd. Aber wenn eine bildhübsche 25-jährige Frau und ein Mann, der nur ein wenig älter sein konnte, gemeinsam in einer Zweieinhalbzimmerwohnung lebten, sah das nach einer engeren Beziehung aus.
«Elke ist zurzeit nicht hier», äußerte der Mann vage. Das Thema schien ihm nicht zu behagen. «Tut mir leid, ich muss los.»
Charlotte besann sich nicht lange, versperrte ihm den Weg in Richtung auf das rote Kleinflugzeug. «Einen Moment werden Sie wohl noch Zeit für mich haben», sagte sie kühl. «Wo ist meine Tochter?»
Er wich ihrem Blick aus.
Der Kerl gefiel Charlotte überhaupt nicht. Sein Äußeres wirkte ungepflegt, der Bartflaum zottelig, das Haar zu lang. Passte es zu Elke, sich mit so einem einzulassen?
«Kann ich nicht sagen», murmelte er, wobei er sich nach allen Seiten umblickte, als könnte jemand sie beobachten. «Sie wird sich schon wieder melden.»
So leicht war Charlotte nicht abzuschütteln. Sie sagte laut und bestimmt: «Ich möchte wissen, wo sich meine Tochter aufhält! Und ich erwarte eine vernünftige Antwort von Ihnen.»
Ihm war anzumerken, wie lästig sie ihm wurde. «Ich weiß es nicht», sagte er unbestimmt. «Sie ist weggefahren …» Er wandte sich um und klappte die Glaskanzel des Fahrzeugs auf.
«Wenn Sie mir keine Auskunft geben wollen, muss ich mich wohl an die Polizei wenden», sagte Charlotte.
Er erschrak. «Lassen Sie das lieber sein!», sagte er halblaut und ein wenig drohend, wie ihr schien. «Sie bringen uns in Teufels Küche!»
DREI
IM GRUNDE gefiel Oberkommissar Otto Kappe die Frau, die vor ihm saß. Als Frau jedenfalls: eine schlanke, aber keineswegs magere Mittdreißigerin mit rötlich getöntem Haar, das nicht ganz so akkurat frisiert war, wie es zu der eleganten Erscheinung der Dame und ihrer teuren Kleidung gepasst hätte. Auch die leicht verschmierte Schminke um ihre braunen Augen verriet etwas von dem Kummer, den sie berechtigt war zu zeigen. СКАЧАТЬ