Название: Grenzgänge
Автор: Jan Eik
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520243
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Endlich fuhr die S-Bahn weiter. Charlotte warf einen Blick auf den Linienplan neben der Tür. Die nächste Station hieß Gesundbrunnen. Am nahen Wedding hatte sie sich einst gut ausgekannt. Mehr als fünfzehn Jahre lag das zurück. Und was für Jahre! Jetzt erinnerte der Name der Station sie nur an Frau Raabe, ihre Haushaltshilfe. Fehlte etwas in der Wirtschaft und war nicht einmal für die bevorzugten Bewohner des Städtchens aufzutreiben, riet die mit ihrer Berliner Kodderschnauze: «Vasuchn Set mal bei de HO Jesundbrunn’! Da jibt et allet.»
Charlotte erschrak. Weshalb war sie so kopflos und unüberlegt losgestürzt?
Der Zug, in dem sie sich befand, erreichte in fünf Minuten wieder den demokratischen Sektor. Am Bahnhof Friedrichstraße musste sie umsteigen, wo eine weitere Grenzpassage bevorstand. Hastig stand sie auf. Stieg sie hier am Gesundbrunnen in den Nordring um, konnte sie über Westkreuz nach Charlottenburg fahren. Das war etwas umständlicher, aber die Wahrscheinlichkeit, einem bekannten Genossen zu begegnen, war umso geringer. Es sei denn, sie traf die gute Frau Raabe auf dem Weg zu einem Einkauf. Die war zu Max’ Ärger nicht einmal Genossin und sprach ganz offen über ihre Westeinkäufe. Oft genug hatte sie Charlotte angeboten, ihr das eine oder andere mitzubringen, ein gutes Stück Seife oder Tosca, ein Parfum, für das sogar Max eine Schwäche hatte.
Charlotte passte scharf auf, entdeckte in dem Gewusel der Umsteigenden aber weder Frau Raabe noch sonst ein vertrautes Gesicht. Von der Raabe wusste sie, dass sich andere Ehefrauen aus dem Städtchen keineswegs so abstinent verhielten wie sie, wenn es um Besuche in West-Berlin ging. Vor allem unter den sogenannten Kulturschaffenden gab es genügend unsichere Kantonisten, von denen viele noch aus den Jahren ihres Westexils über Kontakte nach «drüben»verfügten und sich keineswegs schämten, die reichlich vorhandene Ostwährung zum Schwindelkurs einzutauschen. Sogar über den Kulturminister selbst wurde derlei und manches andere behauptet.
Charlotte fand einen Fensterplatz. Neugierig starrte sie nach draußen. Alles erschien ihr fremd, bis der Zug am Wedding hielt. Der Bahnhof hatte sich kaum verändert. Am liebsten wäre sie ausgestiegen und ein wenig in der vertrauten Gegend herumgeschlendert. Was hinderte sie eigentlich daran, es zu tun? Ein Verbot zu übertreten hatte sie in ihren jungen Jahren keine Sekunde Nachdenken gekostet.
Sie war in Friedrichsberg aufgewachsen, einer Vorstadt im Osten, die seit ihrem Geburtsjahr 1908 auf keinem Pharus-Plan mehr auftauchte und heute zu Friedrichshain gehörte. Zu dritt bewohnten sie in der Kreutzigerstraße Stube und Küche im Hinterhof. Das Gewehr, das der Vater in den heißen Januartagen 1919 mit nach Hause gebracht hatte, blieb so lange in ihrer Matratze versteckt, bis das Kinderbett, dem sie ohnehin um einige Zentimeter entwachsen war, eines Nachts unter ihr zusammenbrach und das Geheimnis preisgab. Das magische Wort Partei, das im Zusammenhang mit dieser Waffe fiel, gehörte zum vertrauten Wortschatz in der Familie. Von Beruf war ihr Vater Parteiarbeiter, wie er der Zwölfjährigen geduldig auseinandersetzte, wobei er sie eindringlich ermahnte, die Partei bei eventuellen Befragungen ungenannt zu lassen.
Als sie sechzehn wurde und die Inflation sich ebenso endgültig verflüchtigt hatte wie die Aussicht auf eine baldige revolutionäre Erhebung der Massen, gehörte sie selbst schon dazu, zum Apparat, in den sie wie selbstverständlich hineinwuchs. Als man den Vater fünf Jahre später zu den sogenannten Versöhnlern zählte und er nur nach harscher Selbstanklage mit einer gelinden Parteistrafe davonkam, verurteilte sie ihn scharf. Gewisser spezieller Aufgaben wegen hatte sie sich weitgehend von den Eltern abgenabelt. In Wahrheit stand sie gänzlich unter dem Einfluss des schwarzlockigen und absolut linientreuen jungen Genossen Jakob Menzel, dessen wahren Namen man ihr erst zehn Jahre später im Verlauf inquisitorischer Vernehmungen und in russischer Sprache vorhielt, so dass sie lange nicht begriff, von wem die Rede war. Ihre einzige Liebe, dieser furchtlose Kämpfer mit dem feurigen Blick aus den so verträumt schimmernden Augen, dem sie mehr vertraute als jedem anderen Genossen, hieß angeblich Isaak Mendel und war der Spionage für die verhassten Faschisten überführt. Diesem unbeirrbar geradlinigen Menschen, der sie nie belogen oder betrogen hatte, war sie blindlings nach Prag und schließlich – welch ein Glücksgefühl empfand sie! – direkt in die Hauptstadt der Welt gefolgt, wo inmitten all der Enge und täglichen Unruhe die gemeinsame Tochter das Licht der Welt erblickte. Mit welchem Stolz versuchte sie, die Urkunde in der noch fremden Schrift zu entziffern! Elka Jakubowna Menzel. Geburtsort: Moskau. Konnte es bessere Voraussetzungen für die Zukunft eines Kindes geben?
Elka, die eigentlich Elke heißen sollte, war vier, als man Jakob verhaftete und wenige Tage später auch Charlotte vorlud, sie bedrohte, beschimpfte, ihr ins Gesicht schlug und ankündigte, sie ins Lager und Elke in ein Heim zu stecken, würde sie nicht zugeben, von Jakobs verräterischem Treiben gewusst, ja ihn dabei unterstützt zu haben. Halb wahnsinnig vor Angst um die bei der Zimmernachbarin zurückgelassene Tochter, war sie beinahe bereit, alles zu unterschreiben, was man ihr vorlegte, als der hasserfüllte Eifer des Vernehmers unerwartet erlahmte. Drei weitere schreckliche Wochen vergingen, bis man sie plötzlich aus dem düsteren Kerker eher verjagte als entließ. Erst vor wenigen Wochen hatte sie einen möglichen Grund dafür erfahren. Das Schreiben über Jakobs Rehabilitation verzeichnete den Tag ihrer letzten Vernehmung als den seines Todes in der Lubjanka.
Unter all den fremden Frauen in der stinkenden, überfüllten Zelle hatte sie gelernt, mit der Verzweiflung umzugehen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie ihr blasses und verstörtes Kind wieder in die Arme schloss. Und ein wenig blieb ihr dieses Glück treu. Hielt jemand die Hand schützend über sie, damit sie nicht die Arbeit in der Fabrik und das dürftige Kämmerchen in der drangvollen Gemeinschaftswohnung verlor, in dem sie hausten? Frauen und Angehörige der Volksfeinde verschwanden spurlos in den Lagern, die Kinder in Heimen. Viele wurden nach Deutschland ausgeliefert, sie und Elke jedoch erst nach Kriegsausbruch in eine primitive Siedlung nahe Taschkent deportiert. Dort wären sie gewiss zugrunde gegangen, hätte es nicht den einflussreichen Genossen Max Weidner gegeben, der sich ihrer aus Berlin erinnerte. Ihm gelang es, sie als wichtige Mitarbeiterin nach Ufa mitzunehmen und später sogar zurück nach Moskau kommandieren zu lassen.
Sie wusste, was sie Max zu verdanken hatte, der ihr in unbeholfenen Worten seine Liebe gestand und schwor, ihr ein treusorgender Ehemann und Elke ein guter Vater zu sein. Ein Wort, das er hielt, solange Elke mitspielte. Sie war dreizehn, als sie mit ihrer Mutter und Max nach Berlin kam und die Mädchen in ihrer Klasse sie als Russki hänselten, weil sie besser Russisch als Deutsch sprach.
Diese Erinnerungen gingen Charlotte durch den Kopf, während sie aufmerksam ihre Umgebung beobachtete. In einem Anfall von Leichtsinn beschloss sie, erst in Witzleben auszusteigen, der Station nahe dem Funkhaus. Dort hatte sie in der Frauenredaktion gearbeitet und zusammen mit Max die Stellung verloren. Dass sie ihm an seine neue Wirkungsstätte folgte, wie er die Verbannung in Stralsund beschönigend nannte, schien ihr so selbstverständlich, dass Elkes Weigerung, mit ihnen in die Provinz zu ziehen, sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Elkes achtzehnter Geburtstag stand bevor, mit dem sie in der DDR ihre Volljährigkeit erreichen würde. Sie jedoch beharrte darauf, mindestens bis nach dem Abitur in der Charlottenburger Wohnung zu bleiben. Später begann sie zu Max’ und Charlottes Entsetzen an der vom Osten verachteten Spalteruniversität zu studieren.
Erst da hatte Charlotte begriffen, wie weit ihr die Tochter inzwischen entglitten war, deren heftige Vorwürfe sie fassungslos über sich ergehen ließ. «Du hast mir nie gesagt, wo mein Vater geblieben ist und weshalb du selbst im Gefängnis warst! Weißt du überhaupt, wie ich mich damals in der schrecklichen Wohnung in Moskau gefürchtet habe?»
Nein, darüber war selbstverständlich nie gesprochen worden. Allenfalls in Andeutungen, von denen Max und Charlotte geglaubt hatten, Elke überhöre sie. Im Übrigen nahm die Partei Elkes Entschluss erstaunlich gelassen zur Kenntnis. Das war für Max das Wichtigste. Ihm fiel es ohnehin schwer genug, sich an seinem neuen Arbeitsplatz Respekt zu verschaffen. Die Museumsleute waren ein reaktionäres Völkchen besonderer Art, die dem Genossen aus Berlin und seinen revolutionären Vorstellungen von der Kunst mit СКАЧАТЬ