Название: Grenzgänge
Автор: Jan Eik
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520243
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Es wurde ein langer Abend. Das Pärchen verzog sich irgendwann, zwei schwarze US-Krieger nahmen die Plätze ein. Keine Jazzer, wie sich herausstellte, sondern zwei brave GIs aus Oklahoma, die auf Rhythm and Blues und Chuck Berry standen und das schwarze Harlem nur aus furchterregenden Erzählungen kannten. Peter, der sich schon öfter mit Amis und britischen Soldaten unterhalten hatte, fand sich überraschend in der Rolle des Dolmetschers. Clemens’ Englisch war dürftig und das seines Kumpels nicht viel besser.
«Ich dachte, du studierst», sagte Peter, dessen Bewunderung für Clemens einen Knacks weg hatte. Und gleich einen zweiten bekam.
«Ich mache gerade Abitur», gab Clemens mit gedämpfter Stimme zu.
«Auch in Englisch?», wagte Peter zu fragen.
Clemens schüttelte den Kopf. «Das haben wir leider erst seit zwei Jahren.»
Peter sah ihn ungläubig an. Zwei Jahre Englisch und dann Abitur – so etwas hatte er noch nie gehört.
Clemens senkte seine Stimme. «Im Osten, verstehst du?»
Der nach dem Aufbruch des Pärchens wieder schweigsame Trompeter nickte trübe.
Peter verstand. Nun war ihm klar, weshalb sich die beiden den ganzen Abend an einer Coca festgehalten hatten, allen mahnenden Anfragen des Kellners zum Trotz. Er selbst hatte immerhin drei getrunken.
Ost-Berliner waren ihm schon hin und wieder begegnet. Eine nähere Bekanntschaft hatte sich nie ergeben. Wozu auch? Sein Vater war Polizeibeamter, der mit dem Osten nichts am Hut hatte. Gar nicht haben durfte. Das war so selbstverständlich wie die Abneigung seiner Mutter gegen alles Östliche und die Vorbehalte seiner Freunde und Klassenkameraden gegen den Osten. Hieß es nicht, der Jazz sei dort verboten?
«Quatsch!», widersprach Clemens. «Musik lässt sich nicht verbieten. Jazz gibt es sogar bei den Russen. Nur keine Platten. Das ist das Problem.»
Peters Problem bestand eher im hohen Preis der Langspielplatten. Die billigeren 45er knisterten nach einer Weile wie ein Lagerfeuer. Sein Taschengeld, das er durch allerlei Nebenarbeiten aufbesserte, reichte nie aus. Einmal in der Woche setzte er in einer Kneipe Kegel auf, für einen Stundenlohn von einer Mark. Das war schäbig genug, aber bei einem Wechselkurs von eins zu vier eine Menge Geld für die Billigkonkurrenz aus dem Osten.
Clemens’ schmale Künstlerhände sahen nicht aus, als hätten sie jemals Kegel aufgesetzt oder andere schwere Arbeiten ausgeführt. Wollte er allerdings eine LP kaufen – die meisten kosteten 19,90 DM –, so waren das in seiner Währung fast neunzig Mark.
«Hast du eine größere Plattensammlung?», fragte Peter dennoch.
«Nur das Wichtigste», antwortete Clemens. «Vom Oldtime nur die wahren Schöpfer: Armstrongs Hot Five, den frühen Sidney Bechet, allenfalls noch Really the Blues mit Tommy Ladnier.»
«Die habe ich auch!», bestätigte Peter stolz.
«Weißt du, dass Bechet und Ladnier zwar aus New Orleans stammen, sich aber erst in Moskau kennengelernt haben?»
Nun staunte Peter doch. «In Moskau? Wie kamen sie denn ausgerechnet da hin?»
Clemens wusste es. «In den zwanziger Jahren gab es dort Jazzkonzerte. Und in den Vierzigern hatten sie sogar ein staatliches Jazzorchester unter Eddie Rosner. Der machte ganz brauchbaren Swing. Natürlich auf sehr sowjetische Art.»
«Interessant», befand Peter. «Du weißt ja gut Bescheid. Bist du mal in Russland gewesen?»
Clemens’ Gesicht verdüsterte sich ein wenig, aber auf dem seines schweigsamen Kumpels breitete sich ein Grinsen aus. «Clemens ist in Moskau geboren», meldete er naseweis.
Clemens schien das für eine überflüssige Bemerkung zu halten. «Ich bin seit ’46 wieder in Berlin!», sagte er ein wenig unwirsch.
Aus Moskau wieder in Berlin? Wie meinte er das? Peter hätte gerne nachgefragt, wollte aber nicht indiskret sein. «Hast du russische Jazzplatten?», fragte er stattdessen.
Clemens bestätigte das. «Auch polnische LPs vom Jazzfestival in Sopot.»
Damit waren sie wieder bei den Platten. «Wäre schön, wenn man die eine oder andere Scheibe auf Band umschneiden könnte», schlug Clemens vor.
Daran war nichts auszusetzen. Peter stimmte zu. «Warum nicht. Wir könnten uns ja mal verabreden. Hast du ’ne vernünftige Bandmühle?»
Die besaß Clemens, im Gegensatz zu Peter, auf dessen Wunschliste ein mindestens halbprofessionelles Tonbandgerät ganz oben stand – also unerreichbar hoch vorläufig. Vielleicht klappte es zum Abi im nächsten Jahr. Im Osten gab es anscheinend wohlhabende Leute, die ihren Kindern, die noch dazu in Moskau geboren waren, großzügige Geschenke machen konnten.
Peter entsann sich, dass es von Hartmut, dem ältesten Cousin seines Vaters, hieß, er sei höherer Offizier bei der Kripo im Osten. In der Familie wurde er kaum erwähnt. Nicht mal zum Siebzigsten des eigenen Vaters war der aufgetaucht. Vermutlich verdienten solche Leute im Osten so viel, dass ihre Kinder im Westen hätten einkaufen können, es aber sicherlich nicht durften.
«Wenn du willst, können wir das bei mir machen», schlug Peter großzügig vor. «Ich wohne nur ein paar Ecken von hier.» In seinem Zimmer durfte ihn jeder besuchen. Weder Mutter noch Vater waren da kleinlich. Außerdem brauchte niemand zu erfahren, dass der Besucher aus dem Osten kam. Clemens sah überhaupt nicht danach aus.
«Ich weiß nicht …», sagte der zögernd. «Die Kiste ist ziemlich schwer und unhandlich. Damit müsste ich ja über die Grenze …»
«Müsste ich mit meinen Platten auch», wandte Peter ein.
«Das ist kein Problem! Du hast einen Westausweis. Bei uns in der Interessengemeinschaft Jazz halten öfter Personen aus dem Westen Vorträge. Die bringen alle ihre Platten mit.»
«Na, wenn du meinst.»
«Ich wohne in Biesdorf. Mit der S-Bahn sind das von hier kaum vierzig Minuten.»
Peter zögerte. In den Osten sollte er. Und dann auch noch so weit. Andererseits reizte ihn die Vorstellung. Wer kannte schon einen echten Jazzfan aus dem Osten? «Wann würde es dir denn passen?», fragte er.
«Am besten wäre es am Tage. Und in der Woche. Dann habe ich sturmfreie Bude.»
«Wir können ja mal darüber reden», sagte Peter.
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