Название: Die verschollenen Traditionen des Okinawa-Karate
Автор: Jamal Measara
Издательство: Автор
Жанр: Спорт, фитнес
isbn: 9783938305447
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Das Sprichwort »Budō ist wie eine Orange« beschreibt sehr gut, wie eine traditionelle Kampfkunst erlernt wird: Die Orange ist schön. Der erste Biss – in die Schale – brennt jedoch. Die Zurückweisung des Meisters, die erste Hürde auf dem Weg zur Kampfkunst, brennt ebenfalls. Die zweite Stufe ist vergleichbar mit der weißen Haut der Orange. Sie ist bitter, wie auch die harte körperliche Arbeit. Viele hören hier auf. Die dritte Stufe, das eigentliche Training, entspricht dem süßen saftigen Fruchtfleisch, zu dem man gelangt, wenn man die ersten beiden Hürden überwunden hat. Es gibt allerdings auch Kerne, auf die zu beißen unangenehm ist; sie entsprechen Rückschlägen oder Verletzungen. Auch bei solchen Ereignissen brechen einige Budōka das Training ab. Ein ernsthafter Schüler wird sich aber von Widrigkeiten nicht abschrecken lassen. Budō gleicht einem Weg durch schwieriges Gelände. Es erfordert viel Anstrengung und Geduld voranzukommen. Nur wenige widmen ihr ganzes Leben diesem Weg, die meisten geben unterwegs auf.
Die fünf Regeln des Dōjōkun
Seit jeher ist neben der Entwicklung körperlicher und geistiger Fähigkeiten die Schulung des Charakters ein wichtiger Bestandteil der Kampfkunst. Auf Okinawa wurden Schüler, die nicht ein Mindestmaß an Tugenden und Charakter besaßen, vom Meister oft gar nicht erst aufgenommen. Die fünf wichtigsten Grundsätze im Karate wurden im sogenannten Dōjōkun festgehalten.
Der genaue Ursprung des Dōjōkun (Regeln für das Dōjō) lässt sich nicht bestimmen. Überliefert wurde es von Sakugawa Kanga (1733 - 1815) auf Matsumura Sōkon (ca. 1800 - 1890). Dieser gab es an seine eigenen Schüler weiter, so z. B. an Itosu Ankō (1832 - 1916). Itosu Ankō gab es wiederum an Funakoshi Gichin (1868 - 1957) weiter. Noch heute existiert eine eigenhändig von Matsumura Sōkon geschriebene Version des Dōjōkun. Im Folgenden werden die fünf Regeln des Dōjōkun einzeln erläutert.
Die erste Regel des Dōjōkun: Es ist wichtig, nach Vervollkommnung des eigenen Charakters zu streben.
Kampfkünstler haben meist eine starke Persönlichkeit und einen ausgeprägten Charakter. Einen wahren Budōka zeichnen Eigenschaften wie Geduld, Bescheidenheit und Rechtschaffenheit aus. Das erste Ziel eines angehenden Kampfkünstlers sollte darin bestehen, eine gute innere Einstellung zu dem, was er tut, zu erlangen, um vollkommen hinter dem eigenen Handeln stehen zu können. Wer den eigenen Charakter bewusst schult, wird auch respektvoll und höflich mit seinen Mitmenschen umgehen.
Es ist wichtig, nie das rechte Maß zu verlieren, vor allem auch für sich selbst. Nur allzu oft gaukelt einem das Ego vor, man sei der Beste. Ich habe es nicht selten erlebt, dass ein Schüler als »Maus« zum ersten Training kam und nach drei bis vier Einheiten als »Elefant« wieder ging. Er passte gewissermaßen kaum noch durch die Tür, so sehr war sein Ego angeschwollen. Seine ersten Trainingserfolge haben ihn hochnäsig werden lassen. Kyan Chōtoku pflegte zu sagen: »Es gibt immer einen höheren Berg«; d. h., es wird immer jemanden geben, der besser ist als du selbst. Kampfkunst soll deshalb auch Bescheidenheit vermitteln. Im Freikampf muss man sehr schnell erkennen, dass es immer wieder Situationen gibt, in denen man unterliegt. Solche Momente können sich positiv auf die eigene Bescheidenheit auswirken, wenn man sich ihrer besinnt. Wichtig für den Schüler der Kampfkunst ist es auch, bewusst daran zu arbeiten, andere negative Charaktereigenschaften wie Habgier und Neid kleinzuhalten.
Eine weitere wichtige Charaktereigenschaft ist die Dankbarkeit. Nie sollte man vergessen, wie man einst angefangen hat, Kampfkunst zu erlernen. Mein Sensei hat mir eine Chance gegeben und mich als Schüler aufgenommen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, und ich werde immer hinter ihm stehen. Sein Vorbild ist einer der Gründe, weshalb ich bestrebt bin, Karate in der Welt zu verbreiten.
Die zweite Regel des Dōjōkun: Es ist wichtig, den Weg der Aufrichtigkeit zu gehen.
In allem, was man tut, sollte Aufrichtigkeit zu finden sein. In erster Linie aber sollte man ehrlich zu sich selbst sein und sich selbst stets hinterfragen. Man belügt sich schneller, als man es für möglich halten möchte. Zu einem aufrechten Leben gehört ebenfalls, zu seinem Wort zu stehen und Verantwortung für die Folgen der eigenen Taten und des eigenen Verhaltens zu übernehmen. Wer aus Bequemlichkeit immer wieder die Meinung ändert, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, hat auf den ersten Blick ein einfacheres Leben. Tatsächlich aber verweichlicht solch ein Verhalten den Charakter, denn gerade das konsequente Durchstehen unangenehmer Situationen stärkt die innere Kraft.
In den Kampfkünsten werden hohe Maßstäbe gesetzt, die nicht immer erreicht werden. Doch dieses Problem ist auch in anderen Wertesystemen zu finden. Sowohl Islam als auch Christentum verbieten z. B. das Töten, und dennoch wurden im Namen dieser Religionen unzählige Kriege geführt. Die USA, um nur ein Beispiel zu nennen, sind vorwiegend christlich geprägt. Dennoch führen sie bis zum heutigen Tag immer wieder Kriege, in denen unzählige Menschen getötet werden. Der einfache Soldat kennt die Menschen, die er tötet, nicht. Sie haben ihm persönlich nie etwas getan; sie sind ihm nie zuvor begegnet. Aber dennoch töten Soldaten. Dies geschieht auf Anweisung der Politik und steht in direktem Widerspruch zu dem Wertesystem, zu dem sich viele dieser Soldaten bekannt haben. Hier stellt sich die Frage, wem man denn eigentlich etwas schuldig ist? Soll man im Auftrag von Politikern, die kommen und gehen, Blut vergießen oder sich selbst und seinen Werten treu bleiben?
Abb. 4: Die fünf Regeln des Dōjōkun.
Budō versucht, das Beste im Menschen zu kultivieren. Daher ist es wichtig, dass ein guter Meister stets die Tugenden des Budō vermittelt und diese vorlebt. In Japan sagt man: »Karate no kunoshi no bugei«– Menschen, die Karate betreiben, sind besondere Menschen, weil sie eigene Prinzipien haben und zu ihnen stehen.
Die dritte Regel des Dōjōkun: Es ist wichtig, sich stets zu bemühen.
Eine der besten Möglichkeiten eines Kampfkunstlehrers, die Tugenden des Budō zu vermitteln, besteht darin, sie vorzuleben. Sehen die Schüler, dass der Lehrer anders handelt, als er es lehrt, dann werden sie seine Lehren instinktiv nicht allzu ernst nehmen. Leider gibt es immer wieder Lehrer, die die Werte des Budō in ihrem eigenen Leben nicht umsetzen, so dass Theorie und Praxis zwei verschiedene Dinge bleiben. Es geht hier keineswegs darum, in jeder Situation perfekt zu handeln. Jeder Mensch macht Fehler. Dies ist menschlich und vollkommen normal. Worauf es in der Kampfkunst ankommt, ist, sich seiner Schwachpunkte bewusst zu werden und an sich zu arbeiten. Dieses stete Bemühen ist ein Eckpfeiler des Budō, und es durchzieht alle fünf Grundsätze des Dōjōkun.
Das rechte Bemühen drückt sich auch in der Bereitschaft aus, etwas von anderen zu lernen. Ich habe Folgendes erlebt: Als der Sensei einmal nicht zum Training kommen konnte, leitete einer seiner Schüler das Training. Einige der anderen Schüler sind einfach gegangen, als sie erfahren hatten, dass der Sensei nicht kommen würde. Das ist nicht das rechte Bemühen. Man kann von jedem etwas lernen.
Oft geschieht es im Training, dass bestimmte Techniken nicht auf Anhieb funktionieren, oder der Lehrer korrigiert einen immer und immer wieder. Man sollte dann nicht so schnell die Flinte ins Korn werfen. Manche Wege sind länger als andere, aber wenn wir ankommen wollen, dann dürfen wir nicht aufhören, vorwärts zu gehen. Will man eine Technik erlernen, nutzt es wenig, sie nur ein- oder zweimal zu üben. Nur durch konsequentes Bemühen und stete Übung bekommt man das, was die Okinawaner Chinkuchi nennen. Chinkuchi lässt sich nicht direkt übersetzen, steht aber sinngemäß für den Zustand, in dem man die Technik verinnerlicht hat. Nur wenn man sich bemüht und sich durch Rückschläge nicht entmutigen lässt, wird sich der Erfolg einstellen. Dies gilt nicht nur im Karate, sondern im Leben allgemein – in der Schule, im Beruf oder auch in Beziehungen. Das Dōjō ist ein Ort, an dem man nie aufhört, an sich selbst zu arbeiten.
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