Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Hightech-Kapitalismus in der großen Krise

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежная публицистика

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isbn: 9783867549301

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СКАЧАТЬ der Medien, von deren Wortgewaltigen die Dramatik der Krise »buchstäblich mit jeder Woche neue rhetorische Maßnahmen verlangt«, wie Frank Schirrmacher 2008 zu Protokoll gegeben hat. »Vertrauen« und »Gier« als die Kategorien, in denen die Krise und ihre Bekämpfung ausgedrückt werden, setzen bei Regungen an, die im »Innern« eines jeden von uns vorgehen. Das macht sie uns plausibel. Als theoretische Begriffe eingesetzt, sind sie falsch, wenn man unter einem theoretischen Begriff das zu veränderndem Eingreifen befähigende Begreifen eines Zusammenhangs versteht. Was nun »Vertrauen«, »Gier« und andere Regungen dieser Art betrifft, so erhalten sie ihre konkrete Bedeutung – und das heißt ihre Wirkungsmöglichkeiten – vom gesellschaftlichen Rahmen. Nehmen wir ein Beispiel: Dass wir gegen bedruckte Papierzettel unsere Lebensmittel eintauschen können, ist eine Frage des Vertrauens. Vertrauen ist bereits von Adam Smith als Existenzbedingung von Papiergeld begriffen worden: »Wenn die Menschen eines bestimmten Landes ein derartiges Vertrauen in das Glück, die Redlichkeit und Besonnenheit eines bestimmten Bankiers haben, dass sie zu der Ansicht gelangen, dass er jederzeit auf Wunsch bereit ist, alle ihm vorgelegten Schuldscheine zu begleichen, haben diese Schuldscheine den gleichen Stellenwert wie Gold- und Silbergeld. Grund ist das Vertrauen, dass dieses Geld den Kunden jederzeit zur Verfügung steht.« (Zit.n. Sen 2009) Wir vertrauen darauf, dass der Staat dieses Zahlungsmittel garantiert; zugleich darauf, dass die anderen auf diese Garantie vertrauen; und endlich, dass, wie es die Frankfurter Allgemeine ihren Lesern erklärt hat, »die Zahl der Zettel in einem gesunden Verhältnis zur Menge der produzierten Güter und Dienstleistungen steht« (Ruhkamp 2009). Anlass für die Zeitung, darüber nachzudenken, war die besondere Vertrauenskrise, die im Herbst 2008 die Reichen erfasst hatte. Diese bangten nicht um ihren Arbeitsplatz, sondern um den Kurs ihrer Wertpapiere sowie, vorausschauend, um die Kaufkraft ihres Geldes. Angesichts der drohenden Inflation, mit der sie als Folge der Staatsverschuldung zur Refinanzierung der Banken rechneten, bot sich die Flucht aus dem Geld in Sachwerte an. In der Tat vervielfachten sich die Umsätze der Münz- und Edelmetallhändler seit Oktober 2008, ja sogar der Ankauf landwirtschaftlicher Nutzfläche rückte ins Visier, während bei Bloomberg des Nachts darüber geredet wurde, wie der für etwas später zu erwartenden Inflation durch spekulative Anlagen in Nahrungsmitteln und Rohstoffen auszuweichen sei. Offensichtlich drückte sich darin eine unter Anlegern weit verbreitete Einschätzung aus, denn in der Folge schnellte der Ölpreis in die Höhe.

      Kategorien wie »Vertrauen« und »Gier« sind gesättigt mit alltäglicher Erfahrung und daher fest verankert in dem, was man etwas voreilig den gesunden Menschenverstand nennt. Sprechen wir mit Gramsci lieber vorsichtiger vom Alltagsverstand. Diesem möchte man Hamlets Worte vorhalten, als ihm der Geist seines ermordeten Vaters begegnet ist: »Es gibt zwischen Himmel und Erden mehr Dinge, als eure Schulweisheit sich träumen lässt.« Nur dass es hier um in Geld ausgedrückte Werte geht, also, wenn man so will, um die Geister toter Arbeit, Geld, das seine Besitzer für sich arbeiten lassen, damit es sich übernatürlich vermehre.

      Ein bescheidenes Beispiel, um den Horizont unserer Schulweisheit zu testen: Die Außenstände der österreichischen Banken in Osteuropa entsprechen in etwa dem Bruttoinlandsprodukt Österreichs, das heißt, definitionsgemäß, dem Gesamtwert aller Güter (Waren und Dienstleistungen), die innerhalb eines Jahres in Österreich hergestellt worden sind. Nun müssen die Österreicher ja von diesen Produkten leben. Wie kann es sein, dass sie diese Produkte aufessen und auf sonstige Weise verbrauchen und zugleich ihren »Wert« weggeben? Nun gut, sie mögen zehn Jahre lang jeweils zehn Prozent der Erlöse gespart und nun verliehen haben. Um dem Problem etwas mehr von seinem wirklichen Gewicht zu geben, zitiere ich aus einem Brandbrief, den eine Gruppe ehemaliger EU-Kommissare und Regierungschefs am 19. Mai 2008 an den Präsidenten der europäischen Kommission gerichtet hat und den neben Jacques Delors nicht nur Helmut Schmidt, sondern sogar Otto Graf Lambsdorff, Urgestein des Wirtschaftsliberalismus, unterschrieben hat. Als das Problem der Probleme benennt der Brief die bisher in der EU herrschende Wirtschafts- und Finanzmarktpolitik, die »auf Unterregulierung, ungenügender Überwachung und Unterversorgung mit öffentlichen Gütern« basiert habe. Wer würde da widersprechen? Zumal im Moment studentischer Streiks für bessere Bildungsbedingungen. Auch Universität und freier Bildungszugang sind solche öffentlichen Güter. Und schließlich deuten Delors, Schmidt, Lambsdorff und andere auf das mysteriöse Ding zwischen Himmel und Erde, den alle Vorstellungen übersteigenden Kreditberg, den sie als fiktives Kapital bezeichnen, möglicherweise ohne zu wissen, dass Karl Marx diesem Begriff seine aktuelle Fassung gegeben hat: »Finanzanlagen repräsentieren nun das Fünfzehnfache des Bruttoinlandprodukts aller Länder.« Ihr Geldausdruck entsprach der Summe der Preise aller Produkte und Dienstleistungen, die die Menschheit in fünfzehn Jahren hervorgebracht und doch wohl auch größtenteils verzehrt hat? Erscheint uns hier der Geist des konsumierten Reichtums in der Gestalt von Finanzanlagen?

      Mit dem »gesunden Verhältnis« des Geldes »zur Menge der produzierten Güter und Dienstleistungen«, von dem der vorhin zitierte FAZ-Autor träumte, kann es nicht weit her sein – und nicht erst seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers.

      Alles […] Stehende verdampft

       Karl Marx, Kommunistisches Manifest

      Ohne weiter in den Wirkungszusammenhang einzudringen, der sich im Geisterbau des fiktiven Kapitals ausdrückt, beschworen Delors, Schmidt usw. die Rückkehr zum »anständigen Kapitalismus«. In dessen Bestimmung meint man ein leises Echo auf die Losung des Weltsozialforums, »die Welt ist keine Ware«, zu vernehmen: »Profitstreben ist das Wesen einer Marktwirtschaft. Doch wenn alles zum Verkauf steht, schmilzt der gesellschaftliche Zusammenhalt, und das System bricht zusammen.«