Название: Zeckenalarm im Karpfenland
Автор: Werner Rosenzweig
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная классика
isbn: 9783954888030
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Geistesabwesend griff er in einen Käfig, der auf dem Fensterbrett stand. Darin züchtete er die kleinen, possierlichen Nager, welche vorübergehend als Nahrungsquelle für seine blutgierigen Minimonster herhalten mussten. Er griff sich eines der Tiere. Es hatte ein wunderschönes, zotteliges braun-weißes Fell und sah ihn mit seinen dunklen Knopfaugen ängstlich an. Dann hob er den Deckel, welchen er über das Aquarium gelegt hatte, kurz an und setzte das Meerschweinchen auf der kleinen Wiese aus. Seine kleinen Zecken hatten stets einen unbändigen Blutdurst. Es sollte ihnen gut gehen. „Vermehrt euch! Ich habe noch Großes mit euch vor!“, raunte er ihnen leise zu, bevor er das Aquarium wieder abdeckte.
Erlangen, Bohlenplatz, Mittwoch, 27. Juni 2012
Kuno Seitz saß auf einer Bank und sah den flanierenden Fußgängern nach. Mütter mit Kinderwägen, die ihren Schützlingen in der Babysprache liebevoll zuredeten. Geschäftsleute, die schnellen Schrittes über den Platz hasteten, ihre Mobiltelefone ständig am Ohr, und mit ihren Gesprächspartnern offensichtlich Wichtiges zu bereden hatten. Glaubten sie jedenfalls. Dann waren da noch die Schülergruppen, welche sich lautstark darüber unterhielten, wie hoch Deutschland Italien im EM-Fußball-Halbfinale schlagen würde, sowie die Rentner, die gemächlichen Schrittes vor seiner Bank dahin schlurften, einige einen Rollator vor sich her schiebend oder zumindest auf einen Stock gestützt.
Es war etwas windig. Das Wetter wusste nicht so recht, was es wollte. Mal war es wolkig und bedeckt, wenige Minuten später strahlte die Sonne von einem blauen Himmel. Für die nächsten Tage waren Temperaturen um die dreißig Grad vorhergesagt.
Kuno Seitz biss herzhaft in seinen Apfel, den er sich als Nachtisch aufgehoben hatte. Vor zwanzig Minuten war er noch in der Raumerstraße 9, ganz in der Nähe vom Bohlenplatz, angestanden. Dort, wo die Erlanger Tafel jeden Mittwoch Essen an hilfsbedürftige Menschen und an die Obdachlosen dieser Stadt ausgibt. Innerhalb weniger Jahre war er ganz, ganz tief gesunken. Alles was er heute noch besaß, passte in einen ausrangierten Einkaufswagen. Das ramponierte Gefährt stand neben ihm, seitlich an der Bank abgestellt. Niemand beachtete ihn. Gelegentliche, neugierige Blicke huschten schnell wieder weg, wenn er den Beobachtern ins Gesicht sah. Kein Wunder, bei seinem ungepflegten Erscheinungsbild. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er bereits erstaunlich schnell ergraut. Seine langen, fettigen Haare klebten an seinem Kopf und aus seinem mit einem wirren Vollbart umrahmten Gesicht stierte ein unstetes, eisgraues Augenpaar, welches beidseitig über einer rot geäderten Hakennase tief in den Augenhöhlen lag. Sein Mund war breit, von zwei wulstigen Lippen dominiert. Alles in allem hinterließ er nicht gerade einen vertrauenserweckenden Eindruck. So manches Kind, welches von seiner Mama an der Hand geführt wurde, drehte sich zu ihm um, deutete mit dem Finger auf ihn und klärte seine Mutter auf: „Schau Mama, böser Onkel!“ „Psst! So was sagt man nicht“, oder „Komm jetzt, man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Leute!“, waren häufig die peinlich berührten Antworten.
Er verstand die Kinder. Er brauchte sich nur selbst zu betrachten. Alleine seine Kleidung hinterließ einen schäbigen Eindruck. Sein jägergrünes Jackett – sein einziges –, welches er winters wie sommers trug, war abgetragen und mit dunklen Rotweinflecken besprenkelt. Die Ärmel waren an den Ellenbogen abgewetzt, und die drei Knopflöcher waren ausgerissen. Egal, Knöpfe waren sowieso längst nicht mehr dran. Das gelbe Baumwollhemd, welches er trug, war seit Monaten nicht mehr gewaschen worden und stank nach seinen Körperausdünstungen. An den Knien seiner schwarzen Jeans klafften taubeneigroße Löcher, und die Zähne des einzigen Reißverschlusses waren zur Hälfte nicht mehr existent. Die Sohlen seiner Sportschuhe mit den drei Riemen schließlich, welche er aus einem Mülleimer gezogen hatte, waren durchgelaufen, und wann immer es regnete, bekam er nasse Füße.
Nachdem er seinen Apfel ratzebutz aufgegessen hatte, stierte er vor sich hin und dachte – wie so oft in letzter Zeit – über sein bisheriges Leben nach. Alles war so schnell gegangen. Der Absturz kam wie aus heiterem Himmel. Er hatte eine glückliche Jugend verbracht. Seine Eltern, Georg und Doris Seitz, kümmerten sich rührend um ihn. Sie lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab, halfen ihm während der Schulzeit beim Lernen und hatten großes Verständnis, wenn er mal eine Dummheit begangen hatte. Kurzum, sie waren immer für ihn da. Kaum hatte er am Albert-Schweitzer-Gymnasium ein gutes Abitur abgelegt und gerade mit seinem Jura-Studium begonnen, erlitt er den ersten schweren Schicksalsschlag. Im Jahr 1994 kamen seine Eltern nicht mehr von einem Urlaub in Tirol zurück. Ein Lkw war bei heftigem Regen in der Nähe der österreichischen Ortschaft Schwaz auf dieGegenfahrbahn geraten. Seine Eltern hatten nicht die geringste Chance. Ungebremst rasten sie mit ihrem Mini-Van in den schweren Lastzug. Vater und Mutter waren sofort tot. In ihrem Testament hinterließen sie ihm nicht nur das kleine Einfamilienhaus in der Schallershofer Straße, ganz in der Nähe des Freibads West, sondern auch eine höchst merkwürdige Überraschung. In einem handgeschriebenen, herzzerreißenden Brief klärten sie ihn darüber auf, dass er gar nicht ihr leiblicher Sohn sei, sondern dass sie ihn im Alter von sechs Monaten adoptiert hätten, da sie selbst keine Kinder bekommen konnten. Noch im Tod warben sie um sein Verständnis, dass sie ihm niemals darüber berichtet hatten, und baten ihn, auch jetzt, nachdem er die Wahrheit erfahren hatte, keine Nachforschungen nach seinen wirklichen Eltern anzustellen. Seine leibliche Mutter war gerade mal siebzehn Jahre alt, als sie ihn geboren hatte, schrieben sie und versuchten in weiteren detaillierten Erläuterungen, deren damalige Lebenssituation und ihre Gründe für die Weggabe des Kindes nachträglich zu entschuldigen. Einen Hinweis auf seine leibliche Mutter gaben sie ihm nicht. Selbst seine Abstammungsurkunde fehlte in dem Familienbuch, welches sie ihm. So lieb sie sich auch immer um ihn gekümmert hatten, so ärgerte er sich doch im Nachhinein über ihre Heimlichtuerei und ihr Fehlverhalten ihm gegenüber.
Kaum dass er seine Adoptiveltern unter die Erde gebracht hatte, brach er sein Jura-Studium ab. Er musste Geld verdienen. Es war absehbar, wann das bescheidene Barvermögen, welches sie ihm vererbten, aufgebraucht sein würde. Doch er war ehrgeizig. Er würde es schaffen. Noch im gleichen Jahr, er war gerade zwanzig, begann er bei Siemens eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Seine interne Firmenabschlussprüfung schaffte er mit einer glatten Eins und wurde sofort in den Kreis der förderungswürdigen Jungkaufleute aufgenommen. Während seiner Ausbildungszeit lernte er Lisa Probst kennen, ebenfalls eine Auszubildende, ein Ausbildungsjahr nach ihm. Die beiden jungen Leute verliebten sich ineinander, schworen sich ewige Treue und Liebe und traten 1997 vor den Traualtar. Die ersten drei Ehejahre waren ein einziger Traum, bis Jens geboren wurde. Zwei Jahre später, im Jahr 2002, kam Töchterchen Tina zur Welt. Während ihr Ehemann im Laufe der Jahre eine steile Firmenkarriere hinlegte, kümmerte sich Lisa Seitz um den Haushalt und die Erziehung der gemeinsamen Kinder. Kuno kam immer später nach Hause, und immer öfter und immer länger war er auf Dienstreisen. Bald fiel Lisa die Decke auf den Kopf. Sie fühlte sich ungerecht behandelt. Es war niemals ihr Lebensziel gewesen, die Rolle einer Putzfrau einzunehmen, drei Mal am Tag Kinderwindeln zu wechseln, zu waschen, zu bügeln und stets ein warmes Essen auf dem Herd zu haben, wenn der Herr des Hauses sich gnädigerweise bequemte, spät am Abend zu Hause zu erscheinen, und nach dem gemeinsamen, wortkargen Abendessen zu gähnen begann. Langsam erlosch die große, gegenseitige Liebe. Immer öfter und in immer kürzeren Abständen zankten sich die Eheleute. Als im Jahr 2007 gegen den Arbeitgeber von Kuno Seitz schwere Vorwürfe wegen gezielter, weltweiter Korruption erhoben und entsprechende Ermittlungen eingeleitet wurden, geriet auch er in die Mühlräder der Justiz. Die von der neuen Firmenleitung beauftragten, investigierenden amerikanischen Anwälte wiesen ihm anhand eines Berges von seiner Festplatte kopierter Dokumente gezielte Bestechung südamerikanischer Politiker nach. Die Sachlage war eindeutig. Kuno Seitz, der glaubte, sich stets zu mehr als einhundert Prozent für СКАЧАТЬ