Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Der blinde Spiegel - Günter Neuwirth страница 19

Название: Der blinde Spiegel

Автор: Günter Neuwirth

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

Серия:

isbn: 9783990402504

isbn:

СКАЧАТЬ Schön, dass England vor 1914 reich an Kolonien war, sehr schön, fabelhaft sogar, denn ab 1919 fielen fast alle an Deutschland. Der brave Kaiser Wilhelm hat emsig Geschichte studiert und weiß, wie man ein Weltreich sichert. Mit Dreadnoughts! Nur Dreadnoughts gewährleisten heutzutage imperiale Macht. Schließlich waren es auch Dreadnoughts, die bei Scapa Flow die entscheidende Wende im großen Krieg gebracht haben. Also kochen die Hochöfen Deutschlands feinsten Stahl und die Werften an der Nord- und Ostsee schmieden große, immer größere Linienschiffe. Bald sagt man Super-Dreadnought. Die Kaliber werden immer größer, die Panzergürtel immer stärker, die Zewed-Geräte immer präziser. Bloß kostet ein Super-Dreadnought so viel, dass man eine Stadt wie Magdeburg tausend Jahre durchfüttern kann, obwohl, wie man weiß, der Bürgermeister von Magdeburg ein großer Esser ist. Deutschland laugt in den Zwanzigerjahren Europa aus, um die Industrie stark zu machen, in den Dreißigerjahren sind die Kolonien dran. Die besten Rohstoffe der Erde werden in hanseatischen Werften zu Großkampfschiffen geformt. Die deutsche Hochseeflotte auf allen Weltmeeren. Ahoi Mariechen, in zwei Jahren bin ich wieder zu Hause, ich schippere gerade mal eben zum heiteren Kanonenschießen nach Tsingtau.

      Arme Welt, arme Menschheit, oder besser: dumme Menschheit. Die besten Leistungen menschlichen Fleißes werden für Kriegsschiffe vergeudet. Das ist meine miesmacherische Ansicht, aber ich bin ja politisch vielleicht ein Trottel.

      Was weiß man in einem böhmischen Elendsquartier über das gelobte Land jenseits des Atlantiks? Bis auf eines nichts. Und dieses eine ist auch nicht schmeichelhaft. Leider. Denn für jedes deutsche Linienschiff haben die Nordamerikaner ebenfalls eines gebaut, für jeden deutschen Zerstörer sogar zwei. Brave Amerikaner, fleißige Amerikaner, reiche Amerikaner, ihr habt bewiesen, dass euer Kontinent wohlhabend ist, denn ihr habt ihn für Linienschiffe geplündert. US Navy sagt man, nicht mehr Royal Navy. Letztere ist in den Fluten der Nordsee versunken, Erstere wählt sich für dieses Schicksal den größeren Teich, den Atlantik.

      Zehn Jahre lang haben die Großmächte jede Penunze in die Rüstung gesteckt, und wir einzelgängerischen und pazifistischen Defätisten wissen, wie das endet. Hellau, es brennt auf den Meeren, auf den Kontinenten und in den Lüften über den Wolken. Das verstehe, wer will, ich bin schlicht und einfach zu dumm dafür, denn mir gehen im Kopf hirnverbrannte Ideen um. Hirnverbrannt. Ich stelle mir vor, wie die europäischen Staaten all ihr mühsam erarbeitetes Kapital in den Bau von Wohnhäusern, Schulen und Universitäten stecken, in Hospitäler, die nicht der Heilung von zerschossenen jungen Männern dienen, sondern der Pflege von Alten und Kranken. Ich stelle mir vor, wie die Schwerindustrie nicht Panzer baut, sondern komfortable Reisewaggons, die auch mit gediegenen Polstermöbeln reüssieren. Und die Flugzeugfabriken bauen keine Bomber zur Zerstampfung menschlicher Siedlungen, sondern Verkehrsflugzeuge, mit denen europäische Studenten zu Forschungszwecken nach Amerika und amerikanische Studenten zu Bildungsreisen nach Europa fliegen. Und Dampfer schunkeln über die Ozeane, um europäische Webstühle, Lastkraftwagen und Radioapparate nach Fernost zu bringen, wofür sie im Gegenzug chinesische Seide und indische Gewürze wieder zurücktragen. Russlands Generäle spielen Balalaika in Budapest und ungarische Husaren fiedeln in Moskau, italienische Industriearbeiter essen böhmische Knödel und galizische Juden verkosten sonnengereiftes Obst aus der Poebene, afrikanische Mädchen küssen preußische Junker und steirische Holzknechte liegen bei den Töchtern arabischer Kamelzüchter.

      Mit einem Wort, ich bin nicht zurechnungsfähig. Aber zum Glück kann ich meine Schnauze halten, denn anderenfalls hätte man mich schon irgendwo an die Wand gestellt. An letzterem Verfahren bin ich allerdings nicht nur einmal knapp vorbeigeschrammt, denn nicht immer konnte ich mein Mundwerk im Zaum halten. Bloß, die Zeiten können den Stimmbändern jede Kraft rauben, denn die medizinische Wissenschaft weiß seit Langem, dass zum Betätigen der Stimmbänder es der Luft der Lunge bedarf, und gerade Letztere kann zur Mangelware werden. Dies aus verschiedensten Gründen, derer einer sein kann: der Lungenschuss, oder sein kann: das Gasfeld ohne Gasmaske, weiters sein kann: die sechzehn Jahre Arbeitslager, darüber hinaus immer wieder sein kann: der jahrelange Kriegszustand der Weltvölker.

      Manchmal will man auch schweigen, will man keinen Laut von sich geben. Zum Exempel nehme ich mich selbst. Ich will nicht viel reden und somit auffällig sein, denn ich habe Dreck am Stecken. Ich habe gar keine blütenweiße Weste. Ich muss sogar die Schnauze halten, denn ich bin ja seit Kurzem ein Agent des Feindes, ein schamloser Vaterlandsverräter. Wenn es denn jemals dazu kommen sollte, dass Schachner, oder vielmehr Grillparzer, mir eine streng geheime Nachricht unter das Kopfkissen legt. Nun, vielleicht gelingt es Schattennacht, eine Information für die Russen zu beschaffen, die den Krieg entscheiden könnte. Etwa, dass der alte österreichische Kaiser unter der Uniform buntscheckige Unterhosen trägt. Etwas wirklich Wichtiges also. Ich bin so verbittert, hungrig und einsam. Ich lebe in einem Drecksloch und genau so fühle ich mich.

      Novemberdepression.

      OSTFRONT, MAI 1915

      Aufmarschraum 3. Bataillon. Und trockenes Wetter. Die Frühlingsregen haben sich längst verzogen, der Boden ist trocken und fest. Das ist ein schlechtes Zeichen.

      Pepi lutscht fast seine Zigarette. Heiß glüht der Glimmstängel an seinen Lippen. Ich habe jetzt zum fünften Mal in einer halben Stunde in den Graben uriniert. Jedes Mal ein paar Tropfen, dann wieder stocken, noch ein paar Tropfen und wieder stocken. Aber der Druck auf der Blase lässt nicht nach. Finsternis umhüllt unsere Köpfe, Finsternis in den Augen, aber wir wissen, es wird bald Tag, die Sonne will den zweiten Tag des Monats Mai hell erleuchten. Gutes Wetter, gutes Wetter, immer wieder hört man die Leute sagen: gutes Wetter. Miserables Wetter, Wetter zum Sterben. Oberleutnant Zillner taumelt durch den Schützengraben, drängt sich an stinkenden Leibern vorbei. Ich stinke auch wie ein Schwein. Und ich muss schon wieder meine Blase entleeren. Alfreds Schulter stemmt sich schon seit einer Stunde gegen die meine. Oder umgekehrt? Alfred, Alfred, was soll ich ohne dich machen? Du darfst nicht fallen, du nicht, ohne dich bin ich verloren und hilflos.

      Oberleutnant Zillner taumelt in die andere Richtung zurück. 3. Bataillon bereit. Noch fünf Minuten. Er hastet hinüber zum 1. Bataillon, das rechts neben uns steht. Meldung machen. 3. Bataillon bereit. Noch vier Minuten bis zur Offensive. Wissen die Russen Bescheid? Was gäbe ich, wenn ich jetzt in Neusandez Kartoffel schälen könnte? Alles, was ich besitze. Mein Leben? Nein, mein Leben nicht, das brauche ich heute noch. Flüsternd fliegt ein Wort durch die Reihe der kauernden Soldaten, die schlafen sollten, um bei Tagesanbruch bei vollen Kräften zu sein, aber niemand konnte in dieser Nacht schlafen. Der dumme Otto drängt sich immer in Pepis Nähe. Pepi strahlt Sicherheit aus, er hat Nerven, er bewahrt einen kühlen Kopf, auch wenn er Zigaretten übermäßig heiß raucht. Wieder und wieder geistert ein Wort durch die Schützengräben. Trommelfeuer. Eine deutsche Erfindung, so sagt man, von der Westfront mitgebracht. Melde gehorsamst, Herr Kaiser, die k. u. k. 4. Armee wartete noch zwei Minuten auf das Trommelfeuer. Etwas südlich von uns stehen die deutsche 11. Armee und hinter uns ein paar österreichische und sehr viele deutsche Kanonen. Und Minenwerfer. Und Reserveregimenter. Und Trains. Und Sanitätsbataillons. Und vorgeschaufelte Leichengruben. Volles Marschgepäck, volle Patronentaschen und volle Hosen, so stehen sie da, die Helden des großen Krieges. Wo bleibt die Zeit? Ich will noch eine Zigarette. Alfred steckt sie mir zwischen die Lippen, bloß weil ich ihn anschaue. Er kann Gedanken lesen, so viel ist gewiss.

      Trommelfeuer.

      Hunderte schwarze Schlünde speien dunkelrotes Feuer und beißend-schwarzen Qualm. Das Feuer wirft Eisen vor sich her, kilometerweit. Die schwarzen Schlünde brüllen. Die Bestie tobt. Die einzelnen Schreie der Bestie verschwimmen ineinander und es wird ein unablässiges, gewaltiges Tosen. Über unsere Köpfe hinweg schneiden spitze Eisenklumpen blutende Löcher in die Luft. Ich höre und sehe nichts davon, aber das Vibrieren der Luft spüre ich. Dann fällt das Eisen, es fällt und fällt und fällt hundertfach auf einen Streich. Und nun das Brüllen der Erde. Ja, die Erde brüllt gequält, als das Eisen sich in sie bohrt. Das Schießpulver reißt der Erde elefantengroße Fetzen aus der Haut. Die Erde heult. Flammen, grelle Blitze, unablässig hämmert СКАЧАТЬ